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Berlin: "Jahr der Freiwilligen": Aufbruch in die Wir-Gesellschaft, statt abzutauchen in den Ego-Trip

"Liebe Ehrenamtler, nutzen Sie das nächste Jahr, die Politik hörte Ihnen nie so zu." Angela Merkel sagt es leicht selbstironisch.

"Liebe Ehrenamtler, nutzen Sie das nächste Jahr, die Politik hörte Ihnen nie so zu." Angela Merkel sagt es leicht selbstironisch. Die Uno hat 2001 zum "Jahr der Freiwilligen und des Ehrenamtes" ausgerufen. Dies hat die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU zum Anlass für eine Auftakt-Veranstaltung genommen. Nicht nur das klassische Ehrenamt im Kirchenchor, im Sportverein oder in der Freiwilligen Feuerwehr wird beleuchtet. Das Thema umfasst alle möglichen politischen und sozialen Initiativen von Bürgern, die oft zeitlich begrenzt sind. Die CDU-Chefin propagiert die "Wir-Gesellschaft", die nicht in Anonymität versinkt, in der vielmehr "jeder den Beitrag leistet, den er leisten kann". Doch dazu bedürfe es der staatlichen Unterstützung. In Berlin gibt es so etwas zum Beispiel beim Quartiersmanagement in den Problemgebieten.

Es geht um Gesellschaftspolitik. Wenn die Bürger nicht zu den Parteien gehen, gehen die Parteien zu den Bürgern. Auch eine Enquetekommission des Bundestages befasst sich mit der "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements". Die stellvertretende Vorsitzende Marie-Luise Dött ist da; einige im Publikum kennt sie von Anhörungen. "Die Politik muss die Bürger wieder entdecken", sagt Christa Thoben, die frühere Berliner Kultursenatorin. Eine Kommission des CDU-Präsidiums, der sie vorsitzt, arbeitet nach dem Motto "Starke Bürger - starker Staat."

André Habisch, Professor für katholische Theologie, wirbt für ein "Gesellschaftsmodell, das nicht am Klassenkampf, sondern am sozialen Engagement" orientiert sei: "Die Bürgergesellschaft zielt darauf, möglichst viele Betroffene zu Beteiligten zu machen." Er fordert die Bewertung dieses Mittuns von der Grundschule bis zum Bewerbergespräch. Nicht der "Ego-Trip in die Karibik" dürfe beeindrucken. Bürgerschaftliches Engagement zeige sich ebenso in lokalen Initiativen, etwa für die Integration ausländischer Jugendlicher oder für die Beschäftigung Arbeitsloser. Man müsse die Bürger "in Entscheidungsprozesse hineinziehen." Hörbar amüsiert reagieren die Zuhörer, als Habisch beteuert: "Sozial und ehrenamtlich Engagierte leben länger. Sie sind zufriedener, gesünder, gehen öfter in die Kirche und haben mehr wirtschaftlichen Erfolg."

Frau Merkel vermisst bei der Bundesregierung die richtigen Rahmenbedingungen für "Ehrenamtler". Die Ökosteuer behindere die Mobilität, die Entfernungspauschale gelte nur für Arbeitnehmer. Ihre Kritik am 630-Mark-Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit ist das Stichwort für den Ehrenpräsidenten des Deutschen Sportbundes, Hans Hansen: "Man kann doch in den Vereinen nicht zehn ehrenamtliche Übungsleiter durch einen angestellten Sportlehrer ersetzen." Aus dem Publikum kommen Forderungen. Sie wollen Anerkennung und Arbeitserleichterung, keine Erschwernisse durch bürokratische Hürden. Hauptforderungen sind eine Unfallversicherung für ihre Tätigkeit, die Anrechnung auf die Rente, Fahrkostenerstattung und Steuerbegünstigung. Marie-Luise Dött notiert Wünsche.

Wie sehr Ehrenamtliche gebraucht werden, zeigen Praktiker am Diskussionstisch. Gabriele Trull ist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Evangelische Krankenhaushilfe, die bundesweit 10 500 Mitglieder hat - und nur eine hauptamtliche Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle. "Wir spenden Zeit", sagt sie, "die das Pflegepersonal nicht hat". Sie und ihre "grünen Damen" besuchen in 400 Krankenhäusern und 300 Altenheimen Patienten, um mit ihnen zu reden, Spaziergänge zu machen, kleine Besorgungen zu erledigen.

Das Wort Armut fällt nicht. Aber die 1993 gegründete "Berliner Tafel" hat als "Lückenfüller" Konjunktur, weil die staatlichen Zuschüsse für soziale Einrichtungen gekürzt wurden, wie die Vorsitzende Sabine Werth sagt. Inwischen gibt es bundesweit 300 solcher Initiativen. 150 Berliner Mitglieder sammeln Lebensmittel und verteilen sie an 220 soziale Einrichtungen wie Obdachlosenheime, Frauenhäuser, Stellen für Aids-Kranke in der Stadt. "Und zehn Schulen versorgen wir", berichtet Frau Werth, "da kommen Kids hungrig in die Schule, in Wedding, Neukölln, in Tiergarten." Eltern-Lehrer-Initiativen würden Essen bereiten. Eine Psychologie-Beratung brauche die Lebensmittel nicht für sich, aber für Kinder in der Nachbarschaft, erzählt Frau Werth. Das Wort Armut fällt nicht. Hans Hansen nennt die Sportvereine eine "Integrationsinstanz". Sie stünden gegen Gewalt, Intoleranz, Rassismus und Rechtsradikalismus.

Christa Thoben spricht das Schlusswort. "Ran an die Wirklichkeit", sagt sie, "die Menschen sind weiter als die Politik." Man dürfe sie nicht mit "plebiszitären Elementen abspeisen und ansonsten bevormunden", damit sie sich "nicht in Politikverdrossenheit und Müdigkeit abwenden". Sie ist sogar für Landesgesetze, von denen man lokal abweichen kann, wenn sie sonst die Arbeit vor Ort behindern. "Eine Gesellschaft ist nie fertig, sie muss sich ständig von oben erneuern. Wir wollen den Staat vom Kopf auf die Füße stellen", meint Frau Thoben.

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