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Berlin: „Jedes Bild eine Welt“

Nach dem Tod Cartier-Bressons kamen Fans in Scharen in seine Ausstellung

An diesem Donnerstag ist es wie sonst nur am Wochenende. Am Tag, an dem die Nachricht vom Tod Henri Cartier- Bressons publik wurde, ist die Werk-Ausstellung des berühmten Fotografen im Gropius-Bau rappelvoll. Von den Bildern sieht man kaum etwas, so viele Köpfe strecken sich danach. Sonst ist donnerstags weniger los, sagt eine Aufsichtsperson. „Zahlen haben wir noch nicht, aber der Andrang heute ist schon sehr auffällig“, berichtet Katrin Mundorf, Pressesprecherin des Hauses. Dagegen erzählt kaum ein Besucher, den man anspricht, er sei gekommen, weil er von Cartier-Bressons Tod erfahren hat. Trotzdem: Im Kondolenzbuch sind schon wenige Stunden nach der Öffnung die ersten Seiten voll mit Widmungen.

Der Künstler mag tot sein, das Werk lebt und fasziniert. Ein Mädchen, vielleicht zehn, steht vor einem Schwarzweißfoto, das indonesische Kriss-Tänzer in Ekstase zeigt. Ihre Gesichter sind verzerrt, die Blicke entrückt, sie bohren sich kleine Lanzen in die nackten Oberkörper. Das Mädchen steht mit halb offenem Mund eine Viertelstunde wie eingefroren vor dem Bild. Die Aufforderung ihrer Mutter, sie möge doch bitte jetzt mit ihr kommen, scheint sie nicht zu hören. Ihr stierer Blick ähnelt dem der Tänzer.

Etwas abseits des Trubels blättert eine ältere Dame mit Brille und silbergrauen Haaren seit geraumer Zeit konzentriert im Ausstellungskatalog. Als sie angesprochen wird, erschrickt sie kurz. „Er hat noch die feinsten Regungen aufgespürt. Diese Bilder machen einen auf eine wunderschöne Weise unruhig.“ Mit jedem weiteren Satz wird ihr Gesicht jünger. Als sie anfing zu schwärmen, war sie noch 65. „Er hat sich mit seinen Bildern unsterblich gemacht.“

Voller Ehrerbietung – so lesen sich auch die Einträge im Kondolenzbuch, das auf einem Pult vor dem Eingang zu den Ausstellungsräumen ausliegt. „Unsterblich!“, „Jedes Bild eine Welt“, „Danke für die Inspiration“. Die Besucher sind sich einig: Ein Fotograf ist gestorben, der sich Menschen würdevoll, offen und menschlich genähert habe.

Ein Paar, um die 50, zu Besuch aus Bremen, findet in einem Foto ein Stück Berliner Studentenzeit wieder. „Vor der Berliner Mauer, im Westen“, 1962. Das Bild zeigt drei junge Männer in Anzügen, die auf einem Stromkasten stehen, dort wo sich Bernauer und Wolliner Straße kreuzen. Das Paar war dort oft spazieren.

Der große Andrang und Erinnerungsbedarf der Besucher freuen Klaus Plötz. Er verkauft Kataloge und Poster im Gropius-Bau. Gestern lief das Geschäft besonders gut. Ein Fan allerdings ließ eine vergriffene Cartier- Bresson-Biografie mitgehen – ohne zu zahlen.

Marc Neller

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