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Berlin: Jedes dritte Kind ist in seiner Entwicklung gestört

Immer häufiger fehlen einfachste Fähigkeiten. Experte fordert standardisierte Kitas, um Defizite auszugleichen

Auf einem Bein stehen, einen Stift halten, einen Satz bilden – immer mehr Kinder können die einfachsten Dinge nicht. Bei der Einschulungsuntersuchung weist mittlerweile ein Drittel der Kinder Entwicklungsstörungen auf. Darauf weist die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hin. „Wo am wenigsten gesprochen wird, wo der Fernseher regiert, da ist es am schlimmsten“, sagt der Sprecher des Berufsverbandes der Berliner Kinder- und Jugendärzte, Ulrich Fegeler.

Störungen bei Kindern seien ganz klar an die soziale Schicht gebunden, in der die Kinder aufwachsen, Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien viel häufiger betroffen als andere. Als Ursache nannte Fegeler, dass die Kinder in der Frühphase ihrer Entwicklung nicht genügend gefördert werden. Kinder bräuchten Anregungen, damit sich ihre Fähigkeiten entwickeln könnten.

Hier kommt der Kindergarten ins Spiel. Nicht alle Kinder besuchen ihn, und nicht alle Kindergärten sind gut. „Der Kindergarten bekommt zunehmend sozialkompensatorische Funktion“, sagte Fegeler dem Tagesspiegel. Er fordert deshalb standardisierte Kindergärten. „Es muss einen Entwicklungsrahmenplan geben.“ Wenigstens Mindeststandards sollten darin festgelegt werden, also: „Sprache, Motorik, kognitive Entwicklung und soziale Erziehung“. Leider seien bisher kaum Einrichtungen ausreichend fähig, auch nur die Mindeststandards zu gewährleisten. „Dabei ist das Problem seit Jahren bekannt.“ Die Bildungspolitik komme ihm wie ein schwerfälliger Tanker vor, der nur langsam wendet.

Mangel an Förderung ist auch Vernachlässigung, kann man sagen. In vielen Familien fehlt es an Grundlegendem. „Es fängt damit an, dem Tag Struktur zu geben. Aufstehen, sich waschen, anziehen. Das bekommen viele Eltern schon nicht hin“, sagt der Jugendstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinhard Naumann (SPD). „Bei vielen gibt es keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr. Immer mehr Eltern sprechen kaum mit ihren Kindern, es mangelt erheblich an Sprachkompetenz.“ Naumann fordert, die Schulspeisung verpflichtend zu machen und das Geld dafür direkt einzuziehen. Denn sonst könnte es sein, dass die Eltern das Geld für andere Dinge ausgeben.

„Die staatlichen Leistungen für Kinder kommen oft nicht bei diesen an“, sagt Naumann. Auch er beobachtet wachsende Defizite bei einfachsten Fertigkeiten: „Viele kennen überhaupt keine Tischkultur, wissen zum Beispiel nicht, wofür Messer und Gabel da sind. Das war früher so nicht sichtbar, da es das Schulmittagessen ja nicht gab.“ Auch soziale Defizite wie unsoziales und rücksichtsloses Verhalten zeigten sich bei Tisch schnell.

Überhaupt, das Essen: 22 Prozent aller Jugendlichen leiden unter Essstörungen, 15 Prozent der jungen Menschen zwischen drei und 17 Jahren haben Übergewicht. Das ist das Ergebnis der aktuellen Jugendgesundheitsstudie der Bundesregierung. Die Studie mit dem Kurztitel „Kiggs“ hat außerdem bei elf Prozent der Mädchen und fast 18 Prozent der Jungen Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten und emotionale Probleme entdeckt.

Fegeler und Naumann sind sich einig: In Deutschland und speziell Berlin mangelt es drastisch an Prävention. Naumann: „Dabei spart alles, was wir in der prägenden Phase zwischen einem und vier Jahren an Fehlentwicklungen verhindern, auf lange Sicht unglaublich viel Geld.“

Die KV lädt alle Interessierten zu einer Infoveranstaltung zum Thema ein, Ulrich Fegeler gehört zu den Referenten. Heute 18 Uhr, Masurenallee 6 A, Eintritt frei. Die kiggs-Studie im Internet: www.kiggs.de

Fatina Keilani

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