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Berlin: Jens Schroth (Geb. 1974)

Der Musik Erkenntnis abringen, ihr Erkenntnis zutrauen

Eiskalt die Silvesternacht. Ein Mädchen kauert barfüßig auf dem Bürgersteig. Sie bietet Schwefelhölzer einzeln zum Kauf an. Niemand kauft ihr ein Streichholz ab. Niemand gibt ihr ein Almosen. Die Kälte kriecht ihr durch den Körper, lässt ihr Herz ängstlich pochen. Sie zündet eins der Hölzer an. Es wird lichter um sie. Noch eins entzündet sie, schnell erlischt es, und noch eins. Fast glaubt sie sich in einer schöneren Welt. Aber die kleinen Flammen wärmen nicht. Das Kind erfriert. Helmut Lachenmann hat das Märchen von Hans Christian Andersen vertont: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern“. Als die Staatsoper Stuttgart mit ihrer Inszenierung an der Pariser Oper gastierte, wurden die Erwachsenen schnell unruhig. Unter einem musikalischen Märchen hatten sie sich etwas Fröhlicheres vorgestellt. Aber die Kinder nötigten die Eltern zum Bleiben. Sie hörten und fühlten, was die Musik ertönen ließ: die bibbernden Lippen, den klirrenden Frost. Selbst das Ritsch des Streichholzes, das Züngeln der Flamme, das Verlöschen der Sterne. Alles war hörbar. Alles ist Musik. Wir sind aufgefordert zu begreifen: Der „normal“ gespielte Ton ist nur eine akustische Möglichkeit unter vielen. Das ist gewöhnungsbedürftig. Da war viel weniger Trost in den Tönen, als sich viele erhofften, aber auch viel mehr Wahrheit als in den Melodien für Millionen. Dennoch, insistiert der Komponist, rührt diese Musik ans Herz: „Begreifen schließt Ergriffensein nicht aus. Das ,Mädchen mit den Schwefelhölzern’ ist ein Lehrstück in beidem: Gibt’s überhaupt ein Kunstwerk, welches nicht ergreifen möchte – wenn nicht das Publikum, so doch den Einzelnen –, und von dem der Erlebende nicht ergriffen werden will? Und darüber hinaus: nur als seinerseits Ergriffener sollte ein Komponist, Maler, Dichter sich ans Werk machen.“

Jens Schroth, Student an der Stuttgarter Musikhochschule und Schüler von Lachenmann, steuerte während der Aufführungen die Taktzählung auf den Monitoren. Das war die eine Seite, die ihn als Dramaturgen auszeichnen sollte, diese unglaubliche Präzision, die sich aus seiner handwerklichen Versiertheit speiste. Er kannte sich aus in der Kompositionslehre, er war daheim in der Musikgeschichte, aber er war auch zu Hause in der Philosophie, und er blendete die Welt da draußen, außerhalb des Opernhauses, niemals aus. Je gröber die Parolen auf dem politischen Marktplatz, desto beharrlicher mühte er sich um Genauigkeit in der Phrasierung der Töne wie der Gesten. Kunst kann helfen die Wirklichkeit differenzierter zu sehen, ohne sich deshalb zur Handlangerin machen zu müssen. „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts“, spottete Hanns Eisler. Was nicht heißen soll, dass nurmehr Propaganda ist, wo musikalische Verzauberung erhofft wird. Musiktheater ist Welttheater. Was das konkret heißt? Stellen Sie sich auf den Alexanderplatz, schließen Sie die Augen und hören Sie, was um Sie herum vorgeht. Klangbilder, Bilderklänge. Je genauer Sie hinhören, desto mehr begreifen Sie von der Welt, in der Sie leben. Und vielleicht hören Sie sogar die Stimme von Franz Biberkopf, der daran erinnert, dass es nicht jedem gut geht in dieser Welt.

Die Tradition spricht uns an. Sie tritt mit uns in Dialog, wenn wir sie nur lassen. Noch in Stuttgart schuf Jens Schroth die Konzertreihe „Dialoge“ an der Staatsoper. Zwei Stücke kamen zum Vortrag, ein Klassiker der Neuen Musik und eine Auftragskomposition als Uraufführung, wobei die Uraufführung wiederholt wurde, damit das Publikum Gelegenheit hatte, sich einzuhören. Dazwischen ein Gespräch mit dem Künstler, in dem Jens Schroth das Gehörte noch einmal zur Sprache brachte. Denn das war seine Leidenschaft, der Musik Erkenntnis abringen, vor allem: ihr Erkenntnis zutrauen. Das gelang ihm in Berlin als leitender Dramaturg an der Staatsoper „Unter den Linden“ in ganz besonderer Weise mit dem Festival für zeitgenössisches Musiktheater: „Infektion!“ Das ist etwas Körperliches. Musik ist etwas sehr Körperliches. Musik rührt an. Wir sind Klangkörper, Resonanzkörper, wir agieren als Lautsprecher unserer Emotionen. Das ist Oper, das ist auch Rock ’n’ Roll. Da führt ein direkter Weg von Bayreuth nach Wacken. Musik soll aufwühlen. Jens Schroth gab jungen Komponisten Aufträge, weil er sie dem Publikum vorstellen wollte. Er hat das Publikum ernst genommen. So, wie er allen mit großer Offenheit begegnete, erwartete er Offenheit auch von den Zuhörern. Die Ergriffenheit der Hörer ist der eigentliche Applaus der Komponisten. Das geht mit Tönen so viel besser als mit Worten. Wir wissen mehr, als wir sagen können, nirgends ist das fühlbarer als in der Musik. „Luci mie traditrici – meine trügerischen Augen“, ist der Titel der Kammeroper von Salvatore Sciarrino, deren Aufführung Jens Schroth noch mit vorbereiten konnte. Die Augen trügen zuweilen schlimmer als unsere Ohren. Das kann böse Folgen haben. Die Schmerzen in seinem Rücken wurden falsch diagnostiziert. Keine harmlose Geschwulst, Krebs. An der schönsten Stelle brach die Melodie ab. Aber das ist es, was in der Stille tröstet: Sie war zu hören, die Melodie.

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