zum Hauptinhalt

Berlin: Jetzt wächst auseinander, was zusammengehört

Zeitreise durch Berlin (8): Weihnachten 1957 ist die Grenze zwischen der West- und der Ost-Hälfte noch durchlässig. Aber wenn man dem Festtrubel entfliehen will, geht es hüben nach Mallorca und drüben nach Moskau. Sogar die Hochs und Tief tragen schon verschiedene Namen

Es steht oben rechts unter der Rubrik „Am Rande bemerkt“ und könnte gestern geschrieben sein: „So einen Betrieb habe ich lange nicht gesehen, einen Tag vor Heiligabend. Die Straßen, die Lokale – kaum Platz zu bekommen. Vor den großen Kaufhäusern stauten sich die Menschen in einem letzten großen Aufschwung der Nachfrage vor dem Fest. Trotz des enormen Umsatzes der Geschäfte in der Adventszeit scheint das Geld nicht ausgegangen zu sein. Jedem fällt noch jemand ein, der zu beschenken wäre. Das Angebot ist groß, gewiss, aber es muss meist auch schon etwas Ausgefallenes sein, wenn es gefallen soll. Wir haben doch wieder so ziemlich alles, Kleidung, Möbel, Haushaltsgeräte und auch die modischen Kleinigkeiten, die man nicht benötigt, aber braucht. Einen wirklich unbefriedigten Wunsch zu finden, ist heute wieder schwieriger, als einen Wunsch zu erfüllen.“ Das legendäre „–thes“ (für Günter Matthes) steht unter dem kleinen Beitrag, mit dem der Tagesspiegel seine Leser am 24. Dezember 1957, also vor 45 Jahren, in Festtagslaune brachte. Auf der anderen Seite der Sektorengrenze hämmerte das lokalpatriotische Bärchen seine Fragen in die Setzmaschine der „Berliner Zeitung“: „Alle Geschenke beisammen? Auch niemanden vergessen? Noch sind einige Stunden Zeit, aber dann wird endlich in allen Häusern das lang vorbereitete Geheimnis gelüftet. Bärchen kann gut nachfühlen, wie den Verkäuferinnen zumute sein wird, wenn sich heute Abend die Pforten der Kaufhäuser und Geschäfte schließen. Uff, werden sie sagen, waren das heiße Dezemberwochen! Am Goldenen Sonntag gab es noch einmal einen Ansturm. Das kann man daraus ersehen, dass z.B. im Haus der Stoffe 50 Prozent mehr Waren umgesetzt werden konnten als am Goldenen des vergangenen Jahres. Nun aber wird es still in der Stadt. Heute Abend wird in viele Häuser die Freude über den reich gedeckten Gabentisch einziehen…“

Also – das Schenken, die Stille, der Zauber und die Harmonie gehörten wie selbstverständlich zum Weihnachtsfest von 1957 in den beiden Berlins, die uns der Krieg samt einem großen Trümmerhaufen hinterlassen hatte. Vier Jahre später, am 13. August 1961, sollte diese Teilung zementiert und unüberwindlich werden. Aber heute, Weihnachten ’57, gehen wir noch rüber und nüber. Sehen uns in den Grenzkinos auf dem Ku’damm schicke Filme an, füllen die Waldbühne bei spannenden Boxkämpfen oder kaufen beim jeweils anderen ein – für 400 Ost-Mark zahlt die Wechselstube am Bahnhof Zoo 100 West-Mark, Kursstand eins zu vier. In der Komödie am Kurfürstendamm gastiert Werner Finck an den Feiertagen mit seinem Solo „Sie werden lachen – mir ist es ernst“, am Bahnhof Friedrichstraße lockt „Die Distel“ mit dem aufregenden Programmtitel „Wohin rollst Du, Erdäpfelchen?“, Bandleader Kurt Henkels bringt die Sporthalle Stalinallee zum Kochen, und im Zoo-Palast küsst Laurence Olivier Marilyn Monroe in „Der Prinz und die Tänzerin“.

Viele, die im Osten wohnen, arbeiten im Westen (und umgekehrt), durch Berlin fließt schließlich immer noch die Spree. S- und U-Bahn fahren ungerührt an den Sektorenschildern vorbei. Auf den letzten Bahnhöfen im Osten haben manche ein mulmiges Gefühl, weil sie sich in ihrem Betrieb verpflichtet haben, West-Berlin nicht zu betreten, die wenigsten hielten sich daran. Außerdem patrouillieren Volkspolizisten durch die Züge und achten auf Leute mit voluminösem Handgepäck, um sie am Verlassen der Hauptstadt der DDR zu hindern. Dennoch ziehen es allein im Jahr 1957 über 267 000 Bewohner des nahen Ostens vor, künftig im goldenen Westen zu leben. Sie gehen auf Nimmerwiedersehen ins Land des Wirtschaftswunders, das Ende der Fünfziger mit Macht und Moneten die karge Nachkriegszeit hinter sich lässt. Ludwig Erhard präsentiert sein Buch „Wohlstand für alle“; die Leute, so sagt man später, hätten das Lachen wieder gelernt. Und die Freude am Leben. Conny packt die Badehose ein und klettert in den Käfer, Hotte Buchholz umgarnt Karin Baal, Elvis Presley rockt und rollt in Uniform ins hessische Friedberg, Rosemarie Nitribitt erregt die Gemüter und Hildchen Knef die prüde Nation, weil „Die Sünderin“ drei Sekunden lang ihre Brust entblößt. Hui! Die modebewusste Frau trägt Petticoat und Nylonstrümpfe. Nierentische und die neuen Pantoffelkinos beherrschen die guten Stuben wie Rudi Schurickes „Capri-Fischer“ die Wellen der schicken großen Radiotruhen. Tausende Gastarbeiter aus Italien kommen zu uns, die West-Berliner entdecken den Süden. Der Tagesspiegel annonciert in seiner Weihnachtsausgabe „ungetrübte Ferientage unter azurblauem Himmel unmittelbar am Badestrand“ – von Berlin „nur sieben Stunden nach Mallorca“, 15 Tage Teilpension 396 DM.

Im Osten fuhren 24 Bestarbeiter im Sonderzug nach Moskau zum Silvesterball im Kreml, darunter „die beste jugendliche Fachkraft der Konsumgenossenschaft Pankow“, Ursula W. „Überall, wo um neue sozialistische Methoden im Handel gerungen wird, ist sie dabei,“ schreibt das Blatt. „Noch keine 22 Jahre alt, führte sie die Gelb-rot-blau-grün-Methode in ihrem Betrieb ein, durch die die Inventur in den Stoffabteilungen wesentlich vereinfacht wird“. Leider gehört solch hausgemachter Unsinn ebenso zum System wie das Kaderwelsch der Funktionäre, ihre Rechthaberei voll hohler Phrasen. Auch davor fliehen die Leute. Die „Berliner“ entsendet ihren Neid- und-Hass-Reporter direkt in die Fangarme des Klassenfeindes. Der Ärmste soll den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche schlecht machen. „Durch den Matsch schlendern Halbwüchsige, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, begleitet von den dazugehörigen Mädchen mit wippenden Pferdeschwänzen.“ Aber da steht plötzlich „Er“, die Hauptperson, „ein Acht-Zylinder-Fordwagen, zweifarbig, von oben bis unten mit einer Art Goldbronze überspritzt“. Und nun bitte anschnallen und festhalten: „Eine jämmerliche Welt, in der das Auto zum Maßstab aller Werte geworden ist. Hier zählt nicht Gesinnung, hier entscheiden nicht Charakter, Menschlichkeit, Anstand oder Aufrichtigkeit – hier wird nach PS gemessen. Hast du ein Auto, machst du Geld, stellst du was dar, das ist hier die Frage. Wer die stärksten Ellenbogen hat, wer am rücksichtslosesten ist, wer den stärksten Wagen fährt, der ist König, und die anderen, die schwächeren, werden in den Dreck getreten. Geradeso wie die Stiefel der Gaffer auf diesem ,Weihnachtsmarkt‘ ausgespuckte Kaugummis und Zigarettenstummel im Matsch unter sich zerdrücken.“ Und die Moral von der Geschicht’: „Das Auto – der Gott dieser Welt. Und wer fragt schon, ob der Rost bereits unter dem Chrom das Metall angefressen hat.“ Wenige Schritte weiter gehen „armselige Mädchen ihren abgezirkelten Weg, aufgeputzt, geschminkt – Fassade. Kauft, Leute, kauft jetzt, amüsiert euch heute, kauft Autos, kauft Schuhe, kauft Mädchen.“ Hehres Glänzen, heil’ges Schauern!

Der Tagesspiegel-Korrespondent belässt es an diesem Tage bei einem Kurzbericht: „In der Sowjetzone war das Warenangebot auch in diesem Jahr nicht reichlicher als sonst. Der Festbraten war zwar durch Importe aus den Ostblockstaaten gesichert, aber was sonst in den Läden zu finden war, hatte geringe Qualität oder war sehr teuer. Auch die kleinen Dinge wie Weihnachtspapier und Schnur waren nicht aufzutreiben. Ein Gang über den Ost-Berliner Weihnachtsmarkt im ehemaligen Lustgarten zeigte die Bemühungen der Behörden, christliche Symbole auszuschalten. An die Stelle des Sterns von Bethlehem war der rote Sputnik getreten. In Pappmaché war er an jedem Spielzeugstand zu finden. Auf einer überdimensionalen Plakatwand hieß es: Sozialismus, das ist der Frieden.“

Karten schweigen. Sie erzählen nichts. Sie sind unschuldig. Sie haben keine Gefühle wie die Menschen in den Straßen und Häusern, die ihre Erlebnisse im Gedächtnis tragen. Nur sie, und natürlich Bilder, Bücher und Zeitungen, erzählen vom Leben innerhalb der Planquadrate einer ungeteilten und dennoch schon geteilten Stadt. Hier ein Regierender Bürgermeister (Willy Brandt), dort ein Oberbürgermeister (Friedrich Ebert). Im Osten die Stalinallee, im Westen das Hansaviertel. Jeder macht seins. Es wächst auseinander, was zusammengehört. Selbst das Glück geht geteilte Wege – die Lotto-Zahlen sind in Ost- und West-Berlin verschieden. Und die Hochs und Tiefs im Ost-Wetterbericht tragen im Westen eigene Namen: Ulfried, Yara, Zarina.

Natürlich haben wir bei unserer Ost- West-Lektüre zum Schluss auch nach einem Weihnachtskrimi geforscht. Im Osten sind sie alle brav, da gibt es nur einen Wohnungsbrand mit einem Schaden von 50 Mark. Aber der Westen! „Aus zwei Schaufenstern in der Wildenbruchstraße Neukölln und in der Hannemannstraße in Britz entwendeten Einbrecher in der Nacht 21 Weihnachtsgänse. Später wurde in der Briesestraße ein abgestellter Personenwagen gefunden, der gestohlen worden war und in dem sich sechs der gestohlenen Gänse befanden. Die Polizei nimmt an, dass die Autodiebe zugleich die Einbrecher sind.“ Waren wir nicht schon immer ein scharfsinniges Völkchen?

Zur Startseite