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Berlin: Johann Krauske (Geb. 1930)

Er ahnte, dass es besser war, nicht nachzufragen

Ruth! Ruth!“ Johann steht vor einer verschlossenen Tür und ruft ihren Namen, immer wieder. Die Tür bleibt verschlossen. Er sieht sich um. Kein Mensch ist in der Straße, keine Gardine bewegt sich. Er ruft weiter, immer lauter. Bis er aufwacht. Jahre und Jahrzehnte träumte Johann diesen Traum.

Noch im Alter konnte er sich ganz genau an Ruth erinnern, an ihre langen, blonden Haare, daran, dass sie, anders als er, jede Mathematikaufgabe im Handumdrehen löste, dass sie manchmal Lieder von Schubert auf dem Klavier in der Aula spielte. Und dass er sie an einem Mittwoch zum letzten Mal gesehen hat. Sie kam einfach nicht mehr in die Schule. Kein Lehrer verlor ein Wort über ihr Fehlen. Und Johann ahnte, dass es besser war, nicht nachzufragen. Auch Herr Ahorn, ein Kollege seines Vater, war eines Tages nicht mehr zur Arbeit gekommen. Und obwohl er einmal im Monat bei den Krauskes Kaffee getrunken und Kuchen gegessen hatte, schien es jetzt so, als hätte er nie existiert.

Weder an Herrn Ahorn noch an Ruth war Johann jemals etwas Sonderbares aufgefallen. Sie liefen und sprachen und kleideten sich wie alle anderen. Wenngleich, das musste Johann zugeben, bei Ruth zu Hause öfter gelacht und mehr gesprochen wurde als bei ihm, ständig Menschen vor der Tür standen, die mit einem „Schalom“ hereingebeten wurden und an einem großen Tisch Platz nahmen. Er selbst hatte an diesem Tisch gesessen, an einem Freitagabend, zu dem Ruth ihn eingeladen hatte. Alle schwatzten und scherzten miteinander, Ruths Mutter zündete zwei Kerzen an, Ruths Vater trug einige Verse aus dem 1. Buch Mose vor und reichte einen Becher mit Wein, an dem auch Johann nippen durfte, herum. Als er an diesem Abend wieder nach Hause kam, sah er mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor die in einer Ecke des Wohnzimmers stehende Lampe, die ihr fahles Licht auf die schweigenden Gesichter seiner Eltern warf.

Als Bomben auf Berlin fielen, schickte man Johann aufs Land zu einer entfernten Cousine, die ihn den Stall ausmisten und Holz hacken ließ und bei jeder Kelle Suppe, die sie ihm auftat, knurrte, sie habe schon genug Mäuler zu stopfen. Manchmal setzte sich Johann an einen Tisch und schrieb den Namen auf ein Blatt Papier: „Ruth“. Als keine Bomben mehr auf Berlin fielen, schickte ihn die Cousine wieder zurück in die Stadt. „Es lag zwar alles in Schutt und Asche“, erzählte Johann später, „aber diese Zerstörung erschien mir auch wie etwas Befreiendes. Man war gezwungen, neu anzufangen und darin lag eine Hoffnung.“

Er sah die Filme aus Ravensbrück, Bergen-Belsen und Auschwitz. Er stellte seinen Eltern Fragen. Aber die saßen unter ihrer trüben Lampe und guckten an ihm vorbei. Er begann, zu viel zu trinken. Er studierte Geschichte an der Freien Universität. Er unterrichtete an einem Gymnasium. Wenn er den Satz „Man muss die Vergangenheit auch mal ruhen lassen“ hörte, drehte sich ihm der Magen um. Er trank weiter zu viel. Er flog nach Israel und besuchte Yad Vashem. Er fand „Ruth“ in der „Halle der Namen“ nicht. Er unterhielt sich mit Menschen in Jerusalem. Während eines Gesprächs strich sich eine Frau mit einer einfachen Geste die Haare aus dem Gesicht, und dabei sah er die Nummer auf ihrem Unterarm. Daraufhin packte er seinen Koffer und flog vorzeitig wieder ab. Die Reise erschien ihm mit einem Mal fragwürdig. War er nicht nur gekommen, um sein Gewissen zu beruhigen? Erwartete er so etwas wie Absolution von den Überlebenden? Wäre dieser Wunsch nicht eine ungeheuerliche Schamlosigkeit? Er war Deutscher, es gab keine Vergebung, nicht dafür.

In den letzten Jahren trank Johann nicht mehr. Sein Traum von Ruth blieb ihm. Hatte er sich lange Zeit gewünscht, er möge endlich aufhören, so war er jetzt wie ein kleiner wertvoller Stein, der in einem Kästchen liegt, das man immer wieder öffnet, um nachzuschauen, ob er noch da ist. Tatjana Wulfert

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