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Berlin: Johanna Eggert (Geb. 1921)

„Also, Himmelherrgott, ich habe zu tun“

Eine nette alte Dame? Eine Oma? Ein wunderliches Tantchen? Sind Sie noch bei Sinnen. Langweilen Sie mich nicht mit ihren Gemeinplätzen. Nur weil ich kein junges Reh mehr bin – zugegeben, das ist schon längst vorbei –, verliere ich nicht langsam den Verstand und stricke dabei Socken, die niemand anziehen will.

Auf diese Weise hat Johanna sich empören können, kam man ihr mit derlei Trivialitäten über das Alter. Sie strickte nicht, sie war dabei, ein Buch über Harry Kupfer herauszugeben. In Archiven zu recherchieren, mit Autoren über Texte zu sprechen, in ihrer eigenen Musikbibliothek nachzusuchen, am Computer zu sitzen, Fotos auszuwählen. Also, Himmelherrgott, ich habe zu tun.

„Vor einigen Jahrzehnten hatte Johanna lange nicht so eine Selbstsicherheit“, sagt eine Freundin. „Dann muss die aber“, wendet ein Freund ein, „sehr schnell gereift sein.“ Und fügt hinzu: „Ich würde fast von einer übersteigerten Selbstsicherheit sprechen. Was für die Leute um sie nicht immer das Einfachste war.“ – „Na ja, sie hat ihre Mutter verloren, als sie 15 war. Dann gab es da die neue Frau des Vaters, die sprichwörtliche böse Stiefmutter, für die sie Holz zu hacken und Kohlen zu schleppen und den Garten in Kladow umzugraben hatte, um einen gnädigen Teller Suppe zu bekommen. Und dann zog sie sich auch noch diese Zyankalivergiftung in der Schallplattenfirma Carl Lindström zu, was physische Schäden und psychotische Zustände und eine prekäre Berufssituation bedeutete. Obwohl sie eine diplomierte Chemikerin war, konnte sie nur noch kleinere Jobs – als Übersetzerin bei den Briten, als Empfangsdame – annehmen.

Aber ab 1961 ging es bergauf. Gesangsübungen, Johanna besaß einen schönen Mezzosopran, heilten ihre angegriffene Lunge, davon war sie überzeugt. Und: Sie erhielt eine Anstellung im Deutschen Institut für Normung, wo sie eine Arbeitsgruppe leitete, die das ISBN-System, die „Internationale Standardbuchnummer“, entwickelte. 2004 verlieh man ihr das Bundesverdienstkreuz für ihre wissenschaftliche Arbeit und auch für die künstlerische. Denn ab 1986 organisierte sie mehr als 30 Ausstellungen von Berliner Künstlern, immer wieder vor allem mit Bildern von Dietrich Fischer-Dieskau, in der Siemens-Villa, im Kammermusiksaal, in der Deutschen Oper. Sie liebte die Oper, Wagner, Bayreuth. Sie brachte ein Buch über das Musiktheater von Götz Friedrich heraus. Saß monatelang im Archiv der Deutschen Oper. Die weiblichen Mitarbeiter des Hauses ließen hin und wieder bissige Bemerkungen fallen: „Wer will denn so ein Buch schon lesen?“ Da sah Johanna den eifersüchtigen Damen fest in die Augen und sagte: „Götz Friedrich will das Buch. Punkt.“

„Woran liegt es, dass die Frauen mich nicht leiden können?“, fragte sie einmal einen Freund, der sie nur anschaute und sagte: „Aber Johanna …“

Sie war eher der burschikose, zupackende Typ. Hatte lange ihren 17 Jahre älteren Mann gepflegt, einen Auschwitzüberlebenden. Als Leute aus ihrer Familie anfingen, judenfeindlichen Dreck zu verbreiten, brach sie mit ihnen von einem Tag auf den anderen. Menschenverachtung war ihr zuwider. Denn auch ihre russische Mutter und ihr russlanddeutscher Vater hatten diese Menschenverachtung zu spüren bekommen, waren 1918 vor dem kommunistischen Terror aus Moskau geflohen. Johanna verstand die russische Sprache, sprach sie aber nur unvollkommen, ihr Vater, ein herrschsüchtiger Mann, bestand darauf, dass sie in Berlin ausschließlich Deutsch zu reden hatte. Doch blieb ihr eine Art romantischer Liebe zu Russland, vor allem vermittelt über die Musik, über den Bariton Dmitri Hvorostovsky, seinen Eugen Onegin, seine Schostakowitsch-Interpretationen, die russischen Volkslieder. Auf den Regalbrettern, vor Tschechow, Tolstoi, Dostojewski, stellte sie eine Matrjoschka, einen Samowar, wenige Stücke, die sie von ihren späteren Reisen mitgebracht hatte. Von ihrer Mutter war ihr nichts geblieben. Außer einigen Fotografien.

Und eigene Kinder? „Ach“, sagt der Freund, „sie war nicht so empfänglich für Kinder.“

So verstrich die Zeit, Bekannte, Freunde um sie starben, Johanna hatte zunehmend Mühe mit den vielen Stufen hoch in ihre Wohnung, in der sie seit 70 Jahren lebte – und manchmal kam sie eben doch, die Einsamkeit, gerade an den Wochenenden. Aber das Buch über Harry Kupfer, das musste noch fertig werden, unbedingt. Es wird, das ist sicher, in diesem Jahr erscheinen.

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