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Berlin: Johanna Kittel (Geb. 1922)

Doch sie machte die Welt bunt

Möglich wäre es gewesen: Johanna hätte ihn sehen können, in der Weihnachtszeit, in Pirna mit den anderen Kindern der Kurrende, einem Chor, der von Haus zu Haus zog und Lieder sang. In ihrer Hand die Klingelbüchse, in der schon ein paar Münzen für die Sommerreise klimperten. Sie hatte sogar an der Tür von Peters Großeltern geläutet. Aber war Peter selbst herausgekommen? Sie wussten es nicht. Doch die bloße Möglichkeit, dass sie sich hätten sehen können, damals schon, erzeugte in ihnen den Eindruck, sie wären viel länger noch als 66 Jahre beieinander.

Als sie sich tatsächlich begegneten, im Rathaus von Pirna, sie die Chefsekretärin des Oberbürgermeisters, er ein junger Justiziar, hatte die Welt um sie herum jede Unschuld verloren. Dresden hatte in Flammen gestanden, Johannas Schwester war mit ihrem Neugeborenen durch das Inferno geirrt, der Vater, ein Steinbildhauer, in Kriegsgefangenschaft geraten und in einem sowjetischen Lager an Hunger und Typhus verendet.

Konnte es Trost geben in diesen Zeiten? Andere Töchter, tausende, hatten ebenso ihre Väter verloren, das wusste sie. Und die Väter, die überlebt, die Bilder gesehen hatten, die sie nie wieder aus ihren Köpfen herausbekommen sollten, mischten sich wieder unter die Menschen, allein mit ihren Dämonen.

Johanna wenigstens besaß ein privates Glück. Hielt es fest und gab es weiter. An Peter, an ihre Kinder, an ihre Enkelkinder. Schuf all diese Momente, die in den Köpfen bleiben, für immer: Die Schokoladentorte zu den Geburtstagsfesten. Die Pfannkuchen zu Silvester. Die Holunderbeeren, die sie an einem Seiteneingang des Tierparks pflückte und aus denen sie eine süße Suppe kochte.

Von ihrer weitläufigen Wohnung aus, unterm Dach des ehemaligen Inspektorhauses, konnte man am Tage die Elefanten sehen und in der Nacht die Wölfe heulen hören. Peter hatte die Juristerei aufgegeben und noch einmal studiert, Bibliothekswissenschaften, war nach Berlin gegangen, an die Staatsbibliothek. Johanna und die beiden Kinder folgten ihm, eine Umstellung der Umzug, aus dem stillen Sandsteinstädtchen in die große graue Stadt.

Doch Johanna machte die Welt bunt. Während der Olympischen Spiele 1984, an denen die DDR gar nicht teilnahm, stellte sie mit ihren Enkelkindern die Sprintwettbewerbe im Tierpark nach, ließ sie auf eine Fußbank, das Siegertreppchen, steigen und hängte ihnen bonbonverzierte Medaillen um die Hälse. Und Scrabble, das Vergnügen an den Buchstaben, an den Worten, die man mit ihnen bilden kann, an Fantasieworten, die sie gelten ließ, was soll gegen eine „Strumpfode“ einzuwenden sein, wenn es doch auch eine Ode an die Freude gibt. Sie fuhr mit den Kindern an die Seen im Umland. Sie schmuggelte ihrem Enkelsohn, nachdem sie 60 geworden war und nach West-Berlin reisen durfte, den „Kicker“ über die Grenze, und er war der König in seiner Klasse. Johanna hatte, nachdem ihre Enkelkinder geboren worden waren, aufgehört zu arbeiten, um ganz und gar für sie da sein zu können, um ihre eigenen Kinder zu entlasten.

Was keineswegs bedeutete, dass sie ein Dasein zwischen Kindern und Küche führte. Musik, vor allem die klassische, liebte sie. Besaß 50 Jahre lang ein Staatskapellenanrecht, hörte mit Peter Kirchenkonzerte und den Thomanerchor. Sie, die das Stenografieren und Maschinenschreiben meisterhaft beherrschte, tippte Manuskripte für ihren Mann, der als Direktor der Katalogabteilung der Staatsbibliothek Bücher verfasste und an Lexika mitarbeitete. Sie wanderte mit ihm durch die Sächsische Schweiz und stieg hinauf ins Riesengebirge. In den letzten Jahren gewiss etwas weniger schwungvoll, doch noch spürte sie die Energie des Lebens, verlor sich nicht in den Beschwerlichkeiten des Alters, in diesem Jammern und Klagen.

Auch als sie aus dem ehemaligen Inspektorhaus – ein Investor hatte verkündet: „Ich mache hier alles neu, mit Restaurant und Fitnesscenter“ – in eine Parterrewohnung in Wedding gezogen waren, führte Johanna den Haushalt, selbstverständlich. Drei Wochen vor ihrem Tod rief sie ihre Tochter an und bat sie, zum ersten Mal, ob sie nicht auf die Leiter steigen könne, um die Gardinen zum Waschen abzunehmen. Zwei Tage vor ihrem Tod, am 20. November, stand sie in der Küche und rieb Kartoffeln für Kartoffelpuffer, aß sie zusammen mit Peter und merkte dann, dass etwas nicht stimmte.

Ein Buch liegt noch auf dem Tisch, der nah am Fenster steht, hinter dem der Ahorn hoch hinaufragt. Immer wieder in den letzten Wochen hat sie in ihm gelesen, Hermann Hesses Betrachtungen und Gedichte über das Alter: Vom Heut zum Gestern scheint es weit, / zum lang Vergessenen nah, / Die Vorwelt liegt und Märchenzeit, / Ein offener Garten, da.

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