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Berlin: Joseph Anders (Geb. 1922)

Durch den Tunnel zum Arbeitsplatz: Fleischer im KaDeWe.

Einen Wecker brauchte er nie, dabei sammelte er Uhren. Mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks wachte er morgens auf, zog sich an, schwang sich aufs Rad und fuhr zur Arbeit. Länger als der Weg von Tempelhof zum KaDeWe fühlte sich der unterirdische Gang von den Umkleideräumen an der Passauer Straße zu den Fleischereiwerkstätten im Hauptgebäude an. In grünen Gummistiefeln und weißer Plastikschürze schlurfte Joseph Anders durch den Tunnel an seinen Arbeitsplatz.

Er war nicht gerade groß, ganze 156 Zentimeter, aber stämmig. Unter den Schweinehälften, die er schleppte, konnte man ihn kaum erkennen. Einmal holte er aus einem großen Fass ein Eisbein, beugte sich weit über den Rand, glitt auf dem rutschigen Boden aus und fiel kopfüber in das Fass. Die Beine strampelten in der Luft. Was so slapstickartig wirkte, hätte ihn das Leben kosten können. Ein Kollege rettete ihn aus der salzigen Brühe. Als er nach Jahren der Fleischverarbeitung in den Verkauf befördert wurde, waren beide Daumen ramponiert. Auf seinen Charme hatte das keinen Einfluss. Viele Kundinnen verlangten nach Herrn Anders, wenn es um den Sonntagsbraten ging. Er bediente sehr zuvorkommend, das machte das Fleisch noch einmal zarter.

Manchmal brachte er seinen beiden Katern von der Arbeit etwas Hühnerleber mit. Das war das Maximum an Eigenbedarf. Sein Gehalt war nicht gerade üppig, und er hatte Frau und zwei Kinder zu versorgen. Sein Fleisch war Gemüse, das er selber zog in einem riesigen Garten in Mariendorf. Auf dem Grundstück, das einer Dame in der DDR gehörte, stand eine alte Laube, umgeben von Obstbäumen, Gemüsefeldern, Blumenbeeten, Rasen und einem Plumpsklo. Ein kleines Paradies am Rande der Stadt. In den Urlaub fuhr die Familie nur zweimal. Zur Erntezeit füllten sie Körbe mit Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Kirschen und tausenderlei Gemüse. Im Taxi beförderten sie alles nach Hause. Der Fahrer bekam zum Dank für seine Geduld beim Verstauen einen Korb mit Früchten.

Kurz nach der Wende machte ein Bagger das Paradies platt. Mit einem Grillfest feierten die Anders Abschied. Aber Wehmut und große Gefühle waren Josephs Sache nicht. Hinter dem Haus in Tempelhof gab es ja auch noch einen Garten, nicht zu vergessen die grünen Inseln an der Straße. Klein-Amsterdam wurde die Wohneinheit bald genannt, weil ein Meer aus Tulpen von allen Seiten anbrandete. War die Blumensaison zu Ende, bereitete er die Weihnachtsdekoration vor. Lichterketten in allen Fenstern und am Balkongeländer. Nur bei der Programmierung der Zeitschaltuhren ließ er sich helfen. Ganz wichtig war die Stunde von 7.30 bis 8.30 Uhr: Da kamen die Kinder zur Kita im Erdgeschoss.

Als seine Frau 1993 starb, übernahm er ihre Hauswartfunktion. Das Gefühl, gebraucht zu werden, war ihm wichtiger als jede Rente der Welt. Noch mit 80 schippte er Schnee vorm Haus, fegte den Hof und beschnitt Hecken und Bäume. Die Hausgemeinschaft dankte es ihm mit Schwätzchen und neuen Tulpenzwiebeln. Wenn ihm eine Einkaufstüte zu schwer wurde, gab er sie im Elektrogeschäft ab. Dort hatte immer jemand Zeit, ihm kurz zu helfen. Feierte das Haus ein Fest, saß er still und gravitätisch auf einem Stuhl und lächelte in die Runde.

Die Tochter musste ihn lange zum Rollator überreden. Wer gibt schon gern zu, dass die Kräfte schwinden? Als er ihn schließlich ausprobierte, war er begeistert: „Warum hab ich mir das Ding nicht schon früher besorgt?“

Er hatte immer im Grünen gelebt, am Ende landete er in einem kleinen Altenheim in einem Kreuzberger Hinterhof. Er wollte seine Katzen unbedingt dabei haben. „Nicht quälen!“, sagte er, als eine von ihnen schwer erkrankte. Daran erinnerte sich die Tochter, als er mit Wasser in den Lungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Arzt machte nur wenig Hoffnung auf lebensverlängernde Maßnahmen.

Einmal schlug er noch die Augen auf. Die Tochter hielt seine Hand und sagte, es sei alles in Ordnung. Auf einer Wolke aus Morphium schwebte er schmerzfrei aus dem Leben. Stephan Reisner

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