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Berlin: Jubiläum: Als der Abgeordnete Henneberg bei einer Rede tot umfiel

Es lagen Welten zwischen den beiden Konstituierungen des Abgeordnetenhauses von Berlin am 11. Januar 1951 im Rathaus Schöneberg und am 11.

Es lagen Welten zwischen den beiden Konstituierungen des Abgeordnetenhauses von Berlin am 11. Januar 1951 im Rathaus Schöneberg und am 11. Januar 1991 in der Nikolaikirche. Die eine stand im Zeichen der Spaltung und der Etablierung West-Berlins als Stadtstaat, die andere im Zeichen der Wiedervereinigung. Aber am Ende hatte sich ein Kreis geschlossen.

In der Rückschau verklärt sich vieles. Das Parlament hat ernste, komische, tragische und tieftraurige Stunden erlebt. Dazugelernt hat es auch, dass man im Plenarsaal nicht mit dem Handy telefoniert. Mit der Zeit klappt auch der Umgang mit der elektronischen Abstimmungsanlage. Großes Gelächter, als die Präsidentin Hanna-Renate Laurien rief: "Drücken müssen Se!"

Leere Bänke sieht man heute öfter als früher. Warum hört sich jede Fraktion nur noch selber zu? Oder hat das neue Abgeordnetenhaus zu viele Hinterzimmer für Besprechungen und ein zu schönes Kasino? Gekungelt wurde natürlich immer. In Schöneberg waren es noch Männer-Runden, die in den umliegenden Kneipen bei Bier und Schnäpschen die Strippen zogen. Doch zurück zur Konstituierung zum 11. Januar 1951. Es gab nun keine Stadtverordneten mehr, sondern Abgeordnete. Aus dem Magistrat wurde der Senat, aus dem Oberbürgermeister der Regierende Bürgermeister. Es war eine kurze Sitzung der 127 gewählten Abgeordneten unter den Augen der Westalliierten. Von den 200 Sitzen wurden 80 für Ost-Berlin freigehalten; die Verfassung war immer auf ganz Berlin bezogen. Hinzu kamen noch acht Ost-Berliner mit beratender Stimme. Man nannte sie "Vertreter der an der Wahl verhinderten Kreise". Ruckzuck waren Präsident Otto Suhr und das Präsidium bestellt. Die Bundesflagge wehte schon vor dem Rathaus, aber es blieb bis zur Einheit dabei, dass Berlin kein Bundesland war.

Nach dem Mauerbau blieben die Ost-Berliner fort. Es war der traurigste Moment in einer Plenarsitzung denn je, als Präsident Willy Henneberg am 17. September 1961 seine Protesterklärung gegen diese "Behinderung" abgab; er fiel tot um.

Große Namen waren unter den Abgeordneten: Ernst Reuter, Otto Suhr und Willy Brandt, Walther Schreiber, Ernst Lemmer, Joachim Tiburtius, Ella Barowsky und Hans-Günter Hoppe. Welcher Erfahrungsschatz war dort versammelt, aus der Weimarer Republik oder gar der Kaiserzeit.

Die bedrängte Lage schweißte das Parlament zur Notgemeinschaft zusammen. Bis 1963 war der Allparteien-Senat selbstverständlich, sieht man von der kurzlebigen CDU/FDP-Koalition unter Walther Schreiber ab. Doch auch ohne Opposition konnte man sich wundervoll streiten, wie sich zur Wahl des ersten Regierenden Bürgermeisters zeigte. Schreiber trat am 12. Januar 1951 gegen den populären Oberbürgermeister Reuter an; es gab ein Patt bei je 62 Stimmen. Nach der Verfassung wäre der Losentscheid fällig gewesen, aber das fanden alle albern. Schreiber hatte die Größe, zu verzichten; am 18. Januar wurde Reuter gewählt.

Unter dem Eindruck des Chruschtschow-Ultimatums zwang Willy Brandt seine Partei nach der Wahl 1958 zur Koalition mit der CDU, obwohl es nur ein Zwei-Parteien-Parlament gab. Selbst nach seinem Wahlsieg von 1963 mit 61,9 Prozent legte Brandt Wert auf Partnerschaft. Nur zwei Allein-Regierungen gabe es in diesen 50 Jahren: den SPD-Senat unter Klaus Schütz 1971 bis 1975 und den CDU-Minderheitssenat unter Richard von Weizsäcker 1981 bis 1983.

Die Eingliederung Berlins in das System der Bundesrepublik war anfangs nicht einfach. Die SPD wollte nichts von der Übernahme der "Adenauer-Gesetze" wissen; Reuter hatte seine liebe Not. Später übernahm das Abgeordnetenhaus alle Bundesgesetze per Abstimmung als Landesrecht und bekam dafür die Bundeshilfe zum Haushalt. Nur die Alternative Liste, seit 1981 vierte Fraktion, hob nicht für jedes Gesetz die Hand. Eines Sonnabends musste der Präsident bei so einer Übernahme-Sitzung, immer Routine von wenigen Minuten, auf Antrag der AL die Beschlussunfähigkeit feststellen. Da brach ein Sturm der Entrüstung über das pflichtvergessene Parlament los.

Unter dem relativ wetterfesten Dach des Viermächte-Abkommens wandte sich Berlin nach innen und entdeckte allerlei kommunalen Filz und Skandale. Ziel aller Wünsche aber blieb die Einheit. Seit 1955 eröffnete der Parlamentspräsident jede Sitzung mit den Mahnworten zur Wiedervereinigung. 1962 kam der Hinweis auf die Mauer dazu. Die Formel lautete: "Ich eröffne die so-und-so-vielte Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und bekunde unseren unbeugsamen Willen, dass die Mauer fallen und Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin wieder vereinigt werden muss." Mit der Zeit erhoben sich nicht mehr alle von den Plätzen. Die Hoffnung sank in die tiefsten Herzenswinkel. Es war Heinrich Lummer, der Anfang der achtziger Jahre ausrief: "Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist."

Im Schöneberger Rathaus waren Senat und Parlament Untermieter des Bezirksamts. Man kann sich nur noch wundern, was alles Platz unter einem Dach hatte, bis hin zum Schulzahnarzt und zur Säuglingsfürsorgestelle. Auch die Großen der Welt mussten am Schild "Bezirkskasse" vorbei. Das Rathaus war offen für alle, gute Stube für Empfänge - und dabei ein ärmliches Provisorium. Dietrich Stobbe ließ 1977 eilig ein Klo renovieren, bevor er die Ministerpräsidenten empfing.

Keine politische Karriere endete so tragisch wie die von Stobbe. Als ihm am 15. Januar 1981 vier SPD-Senatskandidaten im Parlament durchfielen, trat er zurück. "Dies ist die Stunde des Parlaments", rief der Oppositionsführer Eberhard Diepgen aus. Brandt und Weizsäcker traten von Berlin aus ihren Siegeszug nach Bonn an. Reuter und Suhr starben "in den Sielen". Heinrich Albertz, Schütz und Stobbe stürzten, Schreiber, Hans-Jochen Vogel, Eberhard Diepgen und Walter Momper scheiterten an Wahlen.

Einmal nur wurde von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Neuwahlen durch Unterschriften für ein Volksbegehren zu erzwingen. Das tat die CDU 1981, als die SPD am Ende war. Aber es war beeindruckend, was Vogel in nur fünfmonatiger Amtszeit zu Wege brachte. Er gab die Schlossbrückenfiguren an Ost-Berlin zurück und bekam dafür das KPM-Archiv; er gab das Signal zu den S-Bahn-Verhandlungen und zur Lösung des Hausbesetzer-Problems.

Richard von Weizsäcker gab der Stadt neue Hoffnung. In diese kurze Ära fiel die längste Parlamentssitzung. Weizsäcker wollte über seinen Besuch in Washington berichten; daraus wurde eine Hausbesetzer-Debatte bis zum anderen Morgen. Weizsäcker war auch der erste Regierende Bürgermeister, der sich mit Erich Honecker in Ost-Berlin traf - "als deutscher Politiker", wie er sagte. Die Schutzmächte waren verärgert; er hatte sie informiert, nicht gefragt.

Und dann gärte es im Osten. Die Mauer fiel, keiner war vorbereitet. Der 10. November 1989 brachte nach einer Nacht voller Seligkeit die peinlichste Parlamentssitzung. Helmut Kohl reiste mit dem halben Bundeskabinett an, Willy Brandt mit SPD-Größen. Alle waren entsetzt. Das Parlament konnte sich nicht mal auf eine Entschließung einigen, am Ende grölten die Republikaner die Nationalhymne. Dieser verunglückte Tag war wie ein Vorgeschmack auf die Probleme der Einheit. Etwas später waren der Momper-Senat und der rot-schwarze Magistrat unter Tino Schwierzina als "Magi-Senat" ein Herz und eine Seele. Bis zur Wahl im Dezember 1990.

Die erste Sitzung des Gesamtberliner Abgeordnetenhauses in der Nikoaikriche verlief nicht so diszipliniert wie die Konstituierung am 11. Januar 1951. Die 241 Abgeordneten brauchten fünf Stunden und 35 Minuten. Es fremdelte. Mehrfach mussten der Alterspräsident und später die neue Präsidentin Hanna-Renate Laurien um Ruhe bitten. Gewiss war es ein bewegender Moment, als Oberbürgermeister Schwierzina schlicht seine Aufgabe für erfüllt erklärte. Doch dann hagelte es Geschäftsordnungsanträge.

Mit der Übernahme der Verfassung wurde die Stadt auch staatsrechtlich wiedervereinigt. Aber dass sich Ost-Berlin noch für kurze Monate eine eigene Verfassung gegeben hatte, war Ausdruck des Wunsches nach Vereinigung statt Anschluss.

Die PDS-Abgeordneten waren Fremdkörper. Erst nach und nach entkrampfte sich das Verhältnis, zumindest im persönlichen Umgang. Fremd fühlten sich auch vier die DDR-Bürgerrechtler, die sich nicht den Bündnisgrünen anschlossen.

Anfangs ging es um die Rechtsangleichung, um Abwicklungen und Neuorganisation. Für eine kurze Stunde sah man im Rathaus sogar eine Allparteien-Koalition der Freude, als am 20. Juni 1991 der Hauptstadtbeschluss fiel. Einträchtig verabschiedete das Abgeordnetenhaus 1994 auch die Truppen aller vier Mächte mit einem Bürgerfest. Aber einen Festakt der Dankbarkeit richtete das Parlament nur für die Westalliierten aus - dem die PDS demonstrativ fernblieb.

Vieles erschien zögernd, kleinmütig und widerwillig angepackt. Alte Animositäten wurden in die Gegenwart geschleppt. Manches scheiterte, wie die Fusion mit Brandenburg. Manchmal herrschte "hektischer Stillstand", wie Jörg Schönbohm sagte. Und manche Debatte kommt einem vertraut vor. Den staatlichen Religionsunterricht zum Beispiel wollte schon Walther Schreiber durchsetzen. Doch aufs Ganze gesehen hat sich das Parlament in diesem Jahrzehnt zu Modernisierungen durchgerungen, die es in sich haben, wenn auch mit Ach und Weh unter dem Diktat der Finanznot.

Insofern liegen die Mauerzeiten weit, weit zurück. Wenn man sich überlegt, wie schwer es war, das Schicksal dieser Stadt zu meistern, und wenn man sieht, wo Berlin heute steht - ja, dann kommen einem die Probleme, mit denen die Abgeordneten jetzt zu tun haben, ganz, ganz klein vor.

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