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Berlin: Judith Böhm (Geb. 1967)

Andere vergessen ihre Begegnung mit dem Tod so schnell.

TOD“ steht in Judiths Tagebuch. Drei große Buchstaben. Voll von Fassungslosigkeit und Unglaube. Geschrieben, um zu verstehen, dass es wahr ist. Wahr sein soll. Dass ihr Bruder Christoph, von Freunden „Zopf“ genannt, tot am Fuße eines Berges in Österreich liegt. Abgestürzt. Gemeinsam mit seiner Bergfreundin Anne. Am helllichten Tag, während in Berlin die Sonne scheint.

Der Tagebucheintrag ist datiert auf den 23. Juli 1997. Verfasst in der Eile zwischen dem Anruf der Eltern und dem gemeinsamen Aufbruch zur Unglücksstelle. Auf den folgenden Seiten: die Endlosigkeit der Fahrt, bestimmt von der bangen Hoffnung des Herzens, dass alles ein großer Irrtum ist. Ein Missverständnis. Dass es sich nicht um Christoph handelt. Bis der Rucksack des geliebten Bruders in ihren Händen keinen Zweifel mehr zulässt.

Was bleibt, ist ein großes Warum. Und der langsame Weg des Begreifens, dass Christoph nicht zurückkehren wird. Dass er diesmal nicht am ersten Abend nach seiner Rückkehr auf ihrer kleinen Couch sitzen wird, wo er Judith in allen Einzelheiten vom Urlaub berichtet. Dass nie wieder ein Krümel aus seinem Mund auf ihren Teppich fallen wird. Weil er immer gleichzeitig mit der Erzählung unglaubliche Mengen von den kleinen italienischen Keksen essen musste. Die Kekse, die die Geschwister immer füreinander gebacken haben, wenn sie getrennt in Urlaub fuhren.

Als Ärztin kannte Judith viele Spielarten des Todes. Kannte seine Tücke, seine Vorliebe für Überraschungen. Sie hatte Herzpatienten über die Risiken der bevorstehenden Operation aufgeklärt, sie wusste, wie unsicher der Erfolg einer Organtransplantation war.

An jenem Sommertag, als ihr Bruder stirbt, ist es aber, als würde der Tod nicht nur hinter oder neben ihr stehen, es ist, als stelle er sich ihr in den Weg. Als hielte er sie fest. Sie verflucht das Gefühl der Machtlosigkeit.

Judith macht eine Zusatzausbildung im Rettungsdienst. Um sich besser zu wappnen. Und dem Tod zu verstehen zu geben, dass sie sich nicht geschlagen gibt. Dass sie weiter für das Leben kämpft. Obwohl sie weiß, dass das Gefühl der Kälte, das der Tod ihres Bruders hinterlassen hat, nie weichen wird.

Sie wechselt von der kardiologischen Abteilung auf die Krebsstation. Der Grund ist die Verantwortungslosigkeit vieler Patienten gegenüber sich selbst, sobald der lebensnotwendige Eingriff am Herzen hinter ihnen liegt. Sie kann es kaum ertragen, dass andere ihre Begegnung mit dem Tod so schnell vergessen können.

Für ihre Familie ist Judith der Fels in der Brandung. Sie ist da, wenn die Eltern um ihren Sohn trauern, nimmt den Vater in den Arm. Spricht der Freundin ihres Bruders Mut zu. Judiths Tapferkeit erinnert an ein Ritual der Bergsteiger, nach dem ein Stück der Tour in Gedanken an die Bergfreunde gegangen wird, die nicht dabei sein können. So wie Judith ein Stück des Weges für Christoph gegangen ist, wenn sie einmal getrennt in den Bergen Urlaub gemacht haben, schreitet sie nach seinem Tod voran, den Weg des Lebens weiter.

„Von uns wollte keiner im Bett sterben“, sagt Judith auf der Beerdigung von Christoph zu ihren Eltern. Nicht die Verteidigung des Schicksals, sondern der Versuch eines Trostes. Mit „uns“ hat sie ihre engen Freunde und Bekannten aus dem Alpenverein gemeint, mit denen die Geschwister ihre Leidenschaft für die Berge teilten. Ihren Bruder. Und sich selbst.

Zehn Jahre später verunglückt Judith auf schneeglatter Straße. Auf dem Weg zu einem todkranken Krebspatienten. Zurück bleiben ihre Eltern, Judiths Mann und ihre fünfjährige Tochter Miriam. Und wieder die Frage nach dem Warum, auf die es keine Antwort gibt. Den Eltern von Judith und Christoph ist es gelungen, der Fassungslosigkeit mit Dankbarkeit zu begegnen. Dankbarkeit dafür, dass es ihre Kinder gegeben hat. Andrea Kambartel

Andrea Kambartel

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