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Teilnehmer des Kippa-Walks zur Demonstration von Solidarität mit jüdischen Bürgern in Hannover

© dpa/Peter Steffen

Sawsan Chebli und Sigmount Königsberg im Gespräch: "Antisemitismus ist lauter geworden, aggressiver"

Die Nazizeit, ein "Vogelschiss"? Vor wenigen Jahren hätte niemand gewagt, das zu sagen, glaubt der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Frau Chebli, Herr Königsberg, 89 Prozent der Juden in Deutschland haben den Eindruck, der Antisemitismus verschärfe sich. Sie auch?

Königsberg: Ja. Antisemitismus ist lauter geworden, aggressiver geworden. Die Zahl der Menschen mit antisemitischen Einstellungen mag nicht zwingend gestiegen sein. Vor wenigen Jahren aber hätte sich niemand gewagt, die Nazizeit als „Vogelschiss“ zu bezeichnen.

Chebli: Wir wissen seit Jahrzehnten, dass wir 20 Prozent latenten Antisemitismus in der Gesellschaft haben. Neu ist, dass er viel häufiger den Bereich des Latenten verlässt und unverhohlener auftritt, aus vielen Richtungen kommt. Bestimmte Dinge werden sagbarer. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die roten Linien wieder ins Bewusstsein rücken. Das nimmt uns niemand ab. Jede und jeder von uns ist gefordert.

Sind Behörden, sind Politik und Gesellschaft aufmerksam genug?

Königsberg: Tatsächlich ist es so, dass unsere Warnungen, die wir zum Teil schon vor 15 Jahren ausgesprochen haben, heute viel mehr Gehör finden. Dabei spielt sicher auch die gestiegene Zahl antisemitischer Vorfälle eine Rolle. Es gibt eine erhöhte Sensibilität sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Politik zu dem Thema.

Chebli: Wir nehmen diese Zahlen sehr ernst. Das kann ich nur bestätigen. Das Bewusstsein dafür, dass wir noch mehr tun müssen, um jüdisches Leben zu sichern, ist vorhanden – bei allen Beteiligten. Dass der Senat den Arbeitskreis gegen Antisemitismus ins Leben gerufen hat, zeigt, dass der Senat das sehr ernst nimmt.

Sigmount Königsberg ist Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde.
Sigmount Königsberg ist Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde.

© Sophia Kembowski/dpa

In der Debatte ist häufig vom eingewanderten Antisemitismus die Rede. Wird er benutzt, um antimuslimische Stereotype zu verbreiten?

Königsberg: Man kann Antisemitismus nicht mit Muslimfeindlichkeit bekämpfen, das geht nicht. Wer das macht, gießt Öl ins Feuer. Antisemitismus unter Muslimen kann ich nur mit Muslimen angehen. Genauso kann ich nicht schweigen, wenn Muslime diskriminiert werden. Auch deshalb ist es ein wichtiges Zeichen, dass Muslime und Juden zusammen agieren.

Chebli: Ich gehöre zu jenen, die sagen: ja, es gibt Antisemitismus unter Muslimen. Wir sollten hier nicht schönmalen. Je klarer und ehrlicher wir damit umgehen, desto besser für alle. Und die Bereitschaft von Muslimen, sich noch kritischer damit auseinanderzusetzen, war noch nie so ausgeprägt wie heute. Gleichzeitig erleben wir, wie die AfD versucht, unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Antisemitismus Islamhass zu propagieren. Diesen Islamhassern dürfen wir nicht auf den Leim gehen. Wir müssen beides tun: Antisemitismus ohne Ausnahme als solchen benennen, auf der anderen Seite aber keine Gruppe stigmatisieren oder kriminalisieren.

Die Gründung des Arbeitskreises war von der Kritik begleitet, dass diesen eine Muslimin leiten würde. Hält diese an?

Chebli: Diese Kritik kenne ich nicht und gäbe es sie, wäre sie absurd.

Königsberg: Die Präsenz muslimischer Akteure hat uns gestärkt. Ohne diese Perspektive hätte wirklich etwas gefehlt. Ich empfinde die Zusammenarbeit mit Muslimen bei der Bekämpfung von Antisemitismus als wohltuende Bereicherung.

Sawsan Chebli ist Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales.
Sawsan Chebli ist Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales.

© Thilo Rückeis

Antisemitische Vorurteile werden häufig in sozialen Medien verbreitet. Wie wichtig sind Beiträge wie die von Justizminister Heiko Maas, der sich auf Twitter wiederholt klar gegen Antisemitismus wendete?

Chebli: Politik muss die ganz klare Haltung einnehmen, dass Antisemitismus in diesem Land nichts zu suchen haben darf. Mich beschämt es zu hören, dass Juden darüber nachdenken, dieses Land zu verlassen. Politik allein wird Antisemitismus aber nicht besiegen können. Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft, die mit uns an einem Strang zieht. Jeder einzelne in diesem Land hat die Verantwortung, seine Stimme gegen Antisemitismus zu erheben. Wer sich antisemitisch äußert, darf sich nicht in Sicherheit wiegen, sondern muss auf entschiedenen Widerspruch treffen.

Königsberg: Man kann auf solche Hassparolen nicht mit Schweigen reagieren. Schweigen ist Zustimmung. Im Gegenteil: Hier ist eine starke und laute Stimme mit eindeutiger Haltung notwendig. Sonst überlässt man das Feld den Feinden der Demokratie.

Als starkes Signal gegen Fremdenhass und auch Antisemitismus wurde zuletzt die von mehr als 200 000 Menschen besuchte „Unteilbar“-Demonstration gesehen. Ein wichtiges Zeichen auch an die Jüdische Gemeinde?

Königsberg: „Unteilbar“ hat gezeigt, dass alle Teile der Gesellschaft, alle Communitys, zusammenstehen und sich nicht trennen lassen. Wir haben zur Teilnahme aufgerufen und ich würde es auch wieder tun. Die Grundhaltung der Demonstration wurde von unseren Mitgliedern sehr wohl wahrgenommen. Es ist ein Signal, aber es muss mehr folgen.

Ein Aspekt ist der Antisemitismus an Schulen. Sawsan Chebli hatte dabei verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten angeregt. Eine gute Idee?

Königsberg: Ich halte es für einen guten Ansatz, aber nur unter einer Voraussetzung: Solche Besuche müssen gründlich vor- und nachbearbeitet werden. Von einem Tag auf den nächsten nach Sachsenhausen zu fahren und die Sache damit abzuhaken, davon halte ich nichts.

Welche weiteren Bausteine müssen folgen?

Chebli: Gerade in der Bildungsverwaltung tut sich sehr viel, was das Thema Antisemitismus angeht. In der Aus- und Fortbildung der Lehrer, bei der Meldung von antisemitischem Mobbing. Der Arbeitskreis fordert, dass dies systematisch ausgebaut wird und die Sensibilisierung auf alle Fächer ausgeweitet wird.

Reicht es aus, wie in diesem Jahr erstmals geschehen, 20 Lehrer in die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem reisen zu lassen?

Chebli: Es ist gut, dass es diese Fahrten gibt. Wir wollen zudem künftig auch den Austausch junger Menschen und insbesondere Migranten nach Israel noch stärker fördern. Viele haben bisher keinerlei Erfahrungen weder mit Juden noch mit Israel. Aus meiner Sicht gibt es kaum etwas Wichtigeres als Bildung und Begegnung, um Hass abzubauen.

Königsberg: Der Punkt ist, verschiedene Formen des Antisemitismus überhaupt erst zu erkennen. Da haben wir in der Vergangenheit Defizite gehabt, die jetzt aufgearbeitet werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Sensibilisierung für Antisemitismus zum elementaren Teil der Lehrerausbildung wird.

Aktuell läuft eine Befragung zum Antisemitismus in Berliner Schulen. Wie schwerwiegend ist es, dass derzeit belastbare Zahlen fehlen?

Chebli: Das ist ein Problem, auch wenn Berlin in dem Bereich Datenerhebung vorbildlich ist. Zuletzt wurde ein Bundesverband der in Berlin bereits bestehenden Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) gegründet, um künftig auch Vergleiche zwischen den Bundesländern zu ermöglichen. Dennoch wissen wir, dass die polizeiliche Erfassung politisch motivierter Kriminalität nicht ausreicht. Valide Zahlen sind wichtig, um auch den Juden zu signalisieren, dass Politik und Staat das Thema ernst nehmen.

Königsberg: In der Vergangenheit kam es vor, dass antisemitische Vorfälle bei der Polizei nicht als solche registriert wurden. Das wirkt natürlich nicht vertrauensfördernd. Mit der RIAS hat sich das Verfahren deutlich verbessert.

Zur Person

Sigmount Königsberg (58) ist Beauftragter gegen Antisemitismus bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Sawsan Chebli, 40, ist Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales.

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