zum Hauptinhalt
Das ehemalige jüdische Waisenhaus in Pankow.

© David Heerde

Jüdisches Waisenhaus in Pankow: Berlin, du und deine Emigranten

Das ehemalige jüdische Waisenhaus in Pankow ist eine Erinnerungs- und Begegnungsstätte. Regelmäßig treffen sich hier frühere Zöglinge des Waisenhauses. Tagesspiegel-Herausgeber Hermann Rudolph hielt zum Zehnjahrestreffen einen Vortrag, den wir an dieser Stelle dokumentieren.

"Berlin und seine Emigranten – da denkt jeder in Berlin gleich an die vielen Fremden, die im Laufe der Geschichte in diese Stadt gekommen sind und denen sie Heimat geworden ist. Besonders gern an die Hugenotten, die Flüchtlinge aus Frankreich, die die Stadt mitgeprägt haben – sie sind irgendwie der Stolz der Berliner. Oder an die böhmischen Brüder, die Protestanten, die wegen ihres Glaubens vertrieben wurden – sie haben der Stadt immerhin ein kleines Stadtviertel hinterlassen. Jedenfalls sehen die Berliner in ihrer Bereitschaft, fremde Menschen aufzunehmen und zu integrieren, ein Ruhmesblatt ihrer Stadt.

Berlin und seine Emigranten: an diesem Ort hat dieses Thema einen ganz anderen Klang – einen zumindest zwiespältigen, schmerzhaften, tief traurigen. Dieses Haus, das jüdische Waisenhaus, erinnert ja nicht an Menschen, die nach Berlin gekommen sind, um hier Zuflucht zu finden. Sondern an Menschen, die vertrieben, deportiert, vernichtet wurden. Die auch keineswegs Fremde waren, sondern für die Deutschland Heimat war, die hier in diesem Hause Zuflucht und Geborgenheit fanden und die dann zu Emigranten gemacht wurden – durch das Nazi-Regime, auf eine Weise, die man nicht für möglich halten möchte, wenn sie nicht bittere Wahrheit gewesen wäre. Und deshalb ist es ja auch so bewegend, dass diese Emigranten wieder die Orte aufsuchen, von denen sie so schmählich vertrieben wurden, dass also Sie, die einstigen Zöglinge dieses Waisenhauses, Jahr für Jahr in ihr altes Haus zurückfinden.

Das macht dieses Haus zu einem Erinnerungsort – ein Begriff, den die Historiker in den letzten Jahren gefunden haben, um Orte zu bezeichnen, an denen die Vergangenheit in besonderem Maß spürbar ist. Es ist hier eine schlimme Vergangenheit - von Ausgrenzung, Emigration und Deportation. Aber es ist auch die Vergangenheit – die Berichte und Reaktionen machen das deutlich – von jüdischem Leben, das es davor und daneben gab, hier in diesem Hause, hier in Pankow, hier in Berlin, bis die Walze der Vernichtung es auslöschte. Für die Nachgeborenen, für die Menschen in dieser Stadt sind solche Besuche ein Geschenk und ein ermutigendes Zeichen. Denn sie tragen etwas ab von dem, was nicht wieder gut zu machen ist. Bewältigt wird diese Vergangenheit damit auch nicht – wir haben gelernt, dass das nicht geht -, aber es erleichtert es dieser Stadt, mit der schlimmen Vergangenheit zu leben, die sie nun einmal hat. Und das auch, weil wir hoffen, dass für die einstigen Bewohner dieses Hauses die Erinnerung an die frühen Jahre, die Wieder-Berührung mit den Stätten des einstigen Lebens dazu führen können, dass auch sie ein wenig besser mit dem leben können, was ihnen angetan wurde.

Berlin ist ein besonderer Boden für solche Erfahrungen. Denn die Stadt ist ja in außerordentlicher Weise durch die jüdischen Bürger mitgeprägt worden, die hier gelebt haben. Das ist gemeint, wenn man von dem „jüdischen Berlin“ spricht, das zu ihrer Geschichte gehört. Vor 1933 lebte ein Drittel der deutschen Juden in Berlin. Mit 173.000 Mitgliedern war die jüdische Gemeinde die fünftgrößte der Welt. Das war ein Ergebnis der Entwicklung des Landes, das Chancen für viele eröffnete, aber Lage und wirtschaftliche Kraft machte die Stadt auch zu einem Hauptanziehungspunkt der Wanderung der Juden aus Osteuropa nach Westen. Die jüdischen Deutschen waren eine wichtiger Teil dieser Stadt in allen Lebensbereichen, in Medizin, Bankenwesen, Rechtspflege, Kultur, und hier gab es auch ein jüdisches Leben, mit Schulen, Krankenhäuser, soziale Einrichtungen – und eben auch Waisenhäuser.

Das alles ist durch das Dritte Reich zerstört worden. Wie kann eine Stadt, eine Gesellschaft ein Verhältnis finden zu einem solchen ungeheuren Bruch in ihrer Geschichte? Die Frage hier stellen, heißt schon, eine Antwort zu finden. Denn dieses Haus und also die Tätigkeit der Cajewitz-Stiftung und des Vereins der Förderer und Freunde des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses sind ein Beispiel dafür, wie man sich dieser Vergangenheit stellen kann. Aber es gibt in Berlin auch andere Anstrengungen, andere Antworten. Über die Stadt und ihre Emigranten zu sprechen, heißt beispielsweise von dem Emigranten-Programm des Senats zu sprechen. Das begann 1969 – ich glaube, dass auch der oder jener einstigen Zöglinge dieses Hauses mit diesem Programm zum ersten Male wieder nach Berlin gekommen ist. Über 33.000 ehemalige Berliner sind seit der Gründung - durch den damaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz, dem späteren Botschafter in Israel – wieder zu mehrtätigen Besuchen in ihre Heimatstadt gekommen, über vierzig Jahre ist es praktiziert worden, und war eine höchst erfolgreiches Unternehmen – auch wenn es im letzten Jahr der Zeit seinen Tribut geleistet hat und ziemlich bis Null heruntergefahren wurde.

Wer Berichte über diese Besuche gelesen hat oder die Zeitschrift einmal in der Hand hatte, die über sie berichtete, der kann nicht anders als bewegt zu sein. Er weiß, dass in den vierzig Jahren vielleicht kein Strom – das wäre unangemessen –, aber doch ein warmer Rieselregen von beeindruckenden Empfindungen, von Rührung und Betroffensein, von Freude und Schmerz über dieses schlimme Kapitel Berliner Vergangenheit niedergegangen ist. Es sind herzbewegende Geschichten. Sie beleuchten den Hintergrund solcher Wiederbegegnungen mit der alten Heimat: das lange Sich-Sträuben, dann das Sich-Durchringen und schließlich doch das Wieder-Erkennen, das Wieder-Auftauchen alter Erlebnisse, schlimmer und gute, und oft eine gewiss Genugtuung. Es sind allemal Experimente, Experiment mit der eigenen Biographie. Aber die Ergebnisse sind unter dem Strich doch erstaunlich positiv.

Aber es gibt auch andere Wege, Brücken zu schlagen zum Schicksal der Juden in dieser Stadt, den Überlebenden wie den Toten. Da ist nicht nur das Mahnmal im Regierungsviertel, das ja in seinem Anspruch weit über das Schicksal der Berliner Juden hinausweist. Wer aufmerksam durch die Stadt geht, wird an vielen Orten und Plätzen auf Gedenktafeln, Denkmäler, Markierungen stoßen, die versuchen, die Erinnerung wachzuhalten. Nehmen wir als Beispiel den Koppenplatz in Mitte: Dort steht ein leerer Tisch mit einem umgeworfenen Stuhl – ein eindrucksvolles Zeichen für die Vertreibung, und nahebei findet sich eine Hauswand, auf der die Namen derer angebracht sind, die dort gewohnt haben, dazu der Ort und Zeitpunkt ihrer Ermordung. Über manche dieser Denkmäler ist lange und heftig gestritten worden. Zum Beispiel über die Spiegelwand in Steglitz. Dort spiegelt sich der Alltag auf einem Platz im Zentrum des Vorortes in einer Wand, auf der die Namen der deportierten Steglitzer Juden eingegraben sind – das Heute und das Gestern fallen zusammen. Ich erinnere mich deshalb besonders gut daran, weil der Streit zum Teil in unserer Zeitung geführt wurde. Solche Erinnerungsorte breiten sich mittlerweile über die ganze Stadt aus. Mit ihnen ist die Erinnerung an die Berliner Juden sozusagen in ihrem Hier und Jetzt gegenwärtig. Sie ist zum sichtbaren Teil der Stadt geworden.

Es ist ein langer Weg, der dafür zurückgelegt werden musste. Übrigens im Westen und Osten – das Denkmal auf dem Koppenplatz zum Beispiel verdankt sich einem Wettbewerb von 1988, also vor der Wiedervereinigung der Stadt, auch wenn es erst 1996 eingeweiht wurde. Man muss auch einräumen, dass es einige Zeit gedauert hat, bis sich das Bewusstsein dafür gebildet hat. Es gab viele, die daran mitgewirkt haben, dass die Stadt sozusagen ein neues Gedächtnis bekam. Hier in Pankow werden sich viele an den Feuilletonisten Heinz Knobloch erinnern – sein "Herr Moses in Berlin", eine Moses Mendelssohn-Biographie, war dafür ein wichtiger Beitrag. Einzelne Gedenkorte sind schon in den sechziger und siebziger Jahren entstanden. In meiner Bibliothek habe ich ein Buch von 1987 gefunden, ein „Wegweiser durch das jüdische Berlin“, der sogar versucht, beide Teile der Stadt zu präsentieren. Der Bildband „Jüdische Orte in Berlin“, erschienen 1996, durchwandertes dann akribisch die ganze Stadt, Straße für Straße, – Gedenktafeln, Wohnorte bedeutender Persönlichkeiten, Synagogen, andere Gebäude, die einst Orte jüdischen Lebens waren. Dieses Haus war da offenbar noch gar nicht wiederentdeckt – es kommt nicht vor. Anderes Beispiel: Seit Mitte der neunziger Jahre sind in der Stadt vor vielen Häusern sogenannte Stolpersteine verlegt worden, kleine Messing-Platten mit den Namen der Menschen, die von dort aus deportiert wurden. Am vergangenen Sonntag – man konnte es in der Zeitung lesen - sind auf einem Schlag 84 dazu gekommen, in einer Straße in Charlottenburg, das ein bevorzugter Wohnort jüdischer Deutscher war.

Was gehört noch zu dem Versuch, die Erinnerung an die einstigen Emigrierten und Deportierten in die Stadt zurückzubringen? In jedem Jahr werden die Namen der über 55.000 deportierten Berliner Juden öffentlich verlesen, von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und anderen Berlinern, zumeist am jüdischen Gemeindehaus. Es gibt seit Mitte der 90er Jahre das Centrum Judaicum in der Synagoge in der Oranienburgerstraße. Es ist seine Aufgabe, die Geschichte der Juden in Berlin aufzuarbeiten. Es gibt im Rathaus Schöneberg die schöne Ausstellung: "Sie waren Nachbarn", in der ganz lokal an die jüdischen Bewohner in diesem Stadtteil erinnert wird – es ist das Einzugsgebiet des Bayerischen Viertels, in dem besonders viele von ihnen lebten, nicht zuletzt prominente – Albert Einstein zum Beispiel. Und seit 2002 besitzt Berlin das Jüdische Museum, mittlerweile das erfolgreichste Museum der Stadt, angestoßen noch im alten West-Berlin von einer Handvoll engagierter Bürger, zu seinem jetzigen Gestalt gebracht durch Michael Blumenthal – auch er ein Berliner Jude, emigriert wie viele andere über Shangai.

Berlin und seine Emigranten: das ist ein weites Feld, ein zu weites Feld, um es mit dem Fontane zu sagen, dem Berliner Eideshelfer für alle Gelegenheiten. "Aber es kein wüstes, ausgetrocknetes, sondern ein durchaus beackertes Feld." Ob zu dem untergegangenen jüdischen Berlin irgendwann wieder eine Art neues jüdisches Berlin kommen wird, ist eine offene Frage. Viele bemühen sich darum, vor allem die jüdische Gemeinde, aber eben auch viele in den Bezirken, den kulturellen Einrichtungen, den Hochschulen. Aber wenn es dazu kommen sollte, dass jüdisches Leben wieder einen Anteil am Leben dieser Stadt hat, dann werden die Emigranten ein großes Verdienst daran haben. Und auch Erinnerungsorte wie das jüdische Waisenhaus. Die Emigranten, weil sie die Furcht vor der Wieder-Begegnung mit ihrem Schicksal überwunden haben. Die Berliner, weil sie sich bemüht haben, ihnen dabei Hilfestellung zu geben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false