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Berlin: Jürgen Klaus Döhler (Geb. 1949)

Er war die letzte Ratte, die ging.

Hunni, Jumbo und Jürgen im Tourbus nach Freiburg, Juli 1993. Sie spielen Karten, feixen, trinken Bier. Sie nennen sich „Ratten 07“. Man hat sie zum Theaterfestival eingeladen. Es könnte der Absprung zur großen Karriere werden.

Jumbo spielt und macht Regie, Hunni ist Pressesprecher, Jürgen nur Schauspieler, dabei aber sehr wirkungsvoll. Leider trinkt er immer das Requisitenbier aus und vergisst dann sein Stichwort.

Es geht um den Nervenkitzel, obdachlosen Alkoholikern aus der geschützten Nahdistanz zuzusehen, wie sie sich prügeln, anbrüllen und aus ihrem verpfuschten Leben erzählen. Authentisch sei das, loben die Kritiker. Einige klagen, es sei auch voyeuristisch. Der Erfinder des Obdachlosentheaters, Jeremy Weller, hat aber schon beschlossen, dass Voyeurismus im Theater legitim und wichtig ist.

Die Ratten träumen davon, berühmt zu sein, Geld zu verprassen und bewundert zu werden, als besondere, „frei lebende“ Menschen, als Künstler. In der Volksbühne haben sie Unterschlupf gefunden. Auf Gastspielen im Ausland übernachten sie in Fünfsternehotels oder in billigen Absteigen.

Als die Ratten-Zeit lange vorbei ist, schwärmt Jürgen immer noch von Henry Hübchen und Corinna Harfouch, mit denen er auf der Bühne stand. Und von seinem Chef, Frank Castorf. Wenn er ihn trifft, spielt er den starken Mann. „Klar geht’s mir gut. Hab‘ alles im Griff mit dem Alkohol. Mache auch wieder Theater.“ Castorf steckt ihm dann einen großen Schein zu und wünscht alles Gute.

Eigentlich sei er wie Woyzeck, sagt Jürgen, als die Ratten gerade Woyzeck proben. Die Marie, also seine Frau, hätte er fast erstochen, dann aber das Messer wieder hingelegt. „Ich liebe meine Frau abgöttisch, immer noch.“ Nur habe sie ihn eben betrogen. „Die hat sich besudelt mit anderen Männern, verstehste?“

Jetzt sind die Ratten tot, alle drei, vergraben unter einer Wiese. Jürgen ging als Letzter.

Zur Arbeit gezwungen, nach meinem tot / werd verbrannt, gemahlen / zu körnern, in ein Glas gesteckt / werde jeden Tag gedreht / auf den Kopf gestellt / man, ich werd zur Eieruhr.

Gedichte schreibt Jürgen immer mal so nebenher. Ein paar davon hat er verkauft, an die Theaterkollegen aus dem bürgerlichen Lager. In seinen Texten fabuliert er seine Lebensgeschichte immer wieder neu zusammen. Jürgen hat gerne erzählt, „wahre Legenden“, sagen die Kumpels und lachen. Eine handelt von seiner Zeit als Scharfschütze in der Fremdenlegion. „Ich hab’ Leute getötet, die überflüssig waren. Ich war regelrecht bezahlter Mörder.“ Wo seine Kaserne lag, wollte er nicht verraten. Aber dass er wegen einer unglücklichen Liebschaft abgehauen ist. Seinen Eltern meldete er eine Anstellung als Koch in einem Zirkus.

Als ihm keiner mehr glauben wollte, hat er die Legionärsgeschichte für sich behalten. Erzählt hat er dafür eine andere, eine, um die sein gesamtes Leben kreiste. Jürgen nannte sie „Am Nullpunkt“. Damals, 1985, endete seine gesellschaftlich akzeptierte Existenz als Schlachthofarbeiter und Familienvater. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Handlungsablauf zu rekonstruieren.

Version eins: Jürgens Schlachthofkollegen machen Andeutungen, er solle mal besser auf seine Frau aufpassen. Seine Nachtschicht beginnt um ein Uhr morgens, da wäre die ja die halbe Zeit alleine im Bett – oder eben nicht. Jürgen geht der Sache nach, hört verdächtige Geräusche aus dem Schlafzimmer, besorgt sich eine Whiskeyflasche und eine Handgranate für 30 Mark von den russischen Soldaten. Zurück im Schlafzimmer, wirft er dem fliehenden Nebenbuhler nicht die Granate, sondern die Whiskeyflasche hinterher. Seine Frau verprügelt er. Dafür geht er zwei Jahre in den Knast.

Version zwei: Der Ehebruch ist nur der Endpunkt einer gescheiterten Beziehung. Seine Frau will die Scheidung, Jürgen zieht aus, betrinkt sich heftiger als sonst und brüllt auf der Straße, er werde wiederkommen und eine Handgranate auf ihren Balkon werfen. Die Polizei ermittelt, weiß aber nicht, wo sie nach der Handgranate suchen soll, denn Jürgen lebt inzwischen auf der Straße. Zehn Jahre später hat er wieder einen festen Wohnsitz, und die Polizei kann ihren alten Durchsuchungsbeschluss endlich in die Tat umsetzen. Jürgens Zimmer im besetzten Haus Mulackstraße 22 wird durchwühlt. Eine Handgranate finden die Beamten nicht.

Am Nullpunkt beginnt Jürgens Existenz als Berber, als „frei lebender Mensch“, wie er gerne verkündet. Zu den Jahren davor gibt es nur spärliche Angaben.

1955 – Grundschule Friedenau, 1. Versuch, „Rausschmiss“.

1956 – Grundschule Friedenau, 2. Versuch, „Durchhalten“.

1960 – Hauptschule Friedenau, Praktischer Zweig.

1965 – Beginn der Lehre als Koch, Fleischer und Wurstmacher.

1969–1985 – Arbeit am Schlachthof Moabit, Heirat, zwei Töchter.

Nachzutragen ist, dass Jürgen drei Geschwister hatte und einen Stiefvater. Seinen richtigen Vater lernte er während der Lehrzeit kennen. „da war er mein Nachbar in der Kneipe“.

Nachzutragen ist, dass Jürgen seine Gesellenprüfung mit „eins“ bestand.

Seine Arbeit als Schlachter im Akkord konnte er über die Jahre aber nur mit einem stabilen Konsum von Bier und Schnaps bewältigen. Der Absturz zum Nullpunkt geschah nicht aus heiterem Himmel. Der Kontakt zu seiner Frau und den Töchtern brach ab. Er hätte sie gerne wiedergesehen, stand manchmal vor dem Haus, schaute hoch zu ihrem Fenster, eine halbe Stunde lang, und ging wieder.

Als auch die DDR an ihrem Nullpunkt ankommt, freut sich Jürgen, endlich ein Land gefunden zu haben, das so gescheitert und ungebunden ist wie er. Sofort zieht er aus Neukölln nach Prenzlauer Berg, wo die verlassenen Häuser auf neue Bewohner warten. Jürgen richtet sich schließlich in einem schönen alten Haus in der Mulackstraße 22 in Mitte ein. Er nennt es seine „Mulackritze“.

Wie er zum Theater kommt, weiß niemand. Jürgen ist einfach da, sein Name steht im Programmheft des Stückes „Die Pest“ nach Camus. Nach der Premiere reist Regisseur Jeremy Weller wieder ab, schließlich ist sein Randgruppen-Theater nicht nur in Berlin gefragt. Die „Ratten“ fühlen sich missbraucht, zurückgeworfen auf die Müllhalde, von der sie geholt wurden. Wellers Assistent kümmert sich, gründet mit ihnen die „Ratten 07“, entwickelt eine Collage aus Textfragmenten von der Straße bis zur Bühnenreife, Titel: „Die Verpesteten.“ Geprobt und aufgeführt wird im Keller der Mulackritze.

Das Reizvolle an den Aufführungen ist das Unberechenbare. Die Obdachlosen spielen immer wieder anders, improvisieren, grölen, fallen übereinander her, liegen sich wieder in den Armen. Das akademisch-feinsinnige Publikum ist ja leicht zu erschrecken. Es reicht, wenn Jürgen als Woyzeck mit dem Beil auf eine Erbsendose drischt und die kullernden Einzelteile vom Teppich direkt in den Mund steckt. „Shocking“, schreibt ein Beobachter.

Wie im echten Berberleben auch. Nach der zweiten Eigenproduktion beginnen sich die Ratten zu langweilen. Es gibt immer mehr Streit. Jürgen, der Choleriker, will sich von Hunni nicht mehr sagen lassen, wann er Pause machen darf. Schließlich ist er Gründungsmitglied. Und Hunni fast schon ein Überläufer, etabliert mit Frau und fester Wohnung. Jürgens Ratten-Karriere endet abrupt. Er soll mit der Theaterkasse durchgebrannt sein.

Auch in der Mulackritze kann er nicht mehr länger bleiben. Das Haus wird verkauft und saniert. Jürgen zieht in einen Bauwagen, Brunnenstraße 7, Hinterhof. Fast erfriert er dort im Winter 2003. Ein Zeh wird amputiert. Er kommt in eine „betreute Wohngruppe“, macht eine Entziehungskur, findet es aber unmännlich, einer Selbsthilfegruppe beizutreten. Bald hat er wieder sein gewohntes Betäubungsniveau erreicht, schnorrt Geld an den U-Bahnhöfen seines Viertels, um mit einem neuen Flachmann auf seiner Lieblingsbank am Weinbergspark in den Nachmittag hineinzudösen.

Er weiß, dass er sich langsam umbringt. Er will es nicht anders. Auf der Bühne, beim Straßensozialprojekt „Unter Druck“, spielt er den Killer in „This ist not the end“, eine Tarantino-Adaption. Er muss nicht viel sagen, nur herumstehen mit seinem grauen, zerklüfteten Gesicht. Und dann hinfallen und sich verprügeln lassen. Einmal wird er dabei etwas zu kräftig getreten. Jürgen ist schockiert und fühlt sich gedemütigt. Die Bühne, dieser geschützte Raum, wo Bettler so viel Applaus bekommen wie Könige, ist entweiht. Thomas Loy

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