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Berlin: Jürgen Pflügel (Geb. 1938)

Niemand sollte allein im Wald herumirren

Es war beruhigend, mit ihm zu sprechen. Die Leute hatten sich Häuser in den Vororten und auf dem Land gebaut, fürchteten sich aber, wenn sie wegfuhren, vor Dieben. „Sie sollten auf eine große Abschiedszeremonie verzichten, einen Zufallsschalter, der in unregelmäßigen Abständen das Licht einschaltet, einbauen und den Briefkasten regelmäßig entleeren lassen“, sagte Jürgen Pflügel dann. Mit den Hinweisen dieses Herrn von der kriminalpolizeilichen Beratungsstelle, schlank, gut aussehend, kompetent, fühlten sich die Leute sofort sicher.

Für den Silvesterlauf am Teufelsberg stülpte sich der seriöse Herr eine rote Perücke auf den Kopf und setzte eine Pappnase auf. Zu Heiligabend zog er sich ein Weihnachtsmannkostüm an, klopfte wie verabredet bei seinem Nachbarn, das Kind sagte schüchtern ein Gedicht auf, und er holte keine Geschenke aus dem Sack, sondern ein Holzscheit nach dem anderen. Das arme Kind verstand die Welt nicht mehr, und der Weihnachtsmann schüttelte sich vor Lachen. Oder er und sein Freund Norbert saßen in der Laube hinter dem Haus in Heiligensee und spielten Schach, hörten New-Orleans-Jazz und tranken Whisky. Später am Abend brachte ihnen Gisela, Jürgens Frau, einen Teller mit Stullen und noch später am Abend fuhr sie Norbert nach Hause.

Zum ersten Mal gesehen haben sich Jürgen und Gisela bei ihrer Tante, die ihm ein Zimmer untervermietet hatte und ein Fest zu ihrem Hochzeitstag gab. Gisela sah sich bereits gähnend unter den Erwachsenen sitzen und war nicht darauf gefasst, dass sie den Abend über unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschen würde.

Jürgen war der typische Junggeselle. Er besaß eine Gabel, ein Messer und einen Teller und hatte schon die Papiere für die Handelsmarine in der Tasche, um als Mann unter Männern über die Meere zu fahren. Jetzt warf er die Papiere weg und kaufte eine Gabel, ein Messer und einen Teller hinzu. Sie bekamen einen Sohn, sie bauten ein Haus, sie machten fast alles gemeinsam. Tanzen zum Beispiel. Und es war nicht sie, die ihn zum Kurs überredet hatte. Er wollte norddeutsche und skandinavische Volkstänze lernen.

Er organisierte die öffentlichen Auftritte für die Gruppe. Er bereitete die Treffen mit den Tänzern aus Schweden vor. Wie er überhaupt unentwegt in Bewegung war, Eishockey spielte, ruderte, mit dem Rennrad fuhr, surfte und lief.

Bei einem 25-Kilometer-Lauf fragte ihn ein Freund, ob er noch rauche. Darauf Jürgen: „Laufen und Rauchen ist wie Gasgeben und Bremsen zugleich.“ Mittwoch, Samstag und Sonntag bot er eine Laufgruppe an, auch für die Schwächeren, denn allein im Wald sollte niemand herumirren. Jeden Herbst plante er eine Wanderung auf dem Rennsteig, legte zuvor mit Gisela die Strecke fest und suchte eine Pension aus. An den Abenden gab es Kultur, eine Kirchenbesichtigung oder einen Museumsbesuch, dann setzten sich alle zusammen und aßen ihre mitgebrachten Salate und Würstchen und Brote.

Erst im März 2012 hörte Jürgen auf, die Gruppe zu leiten, obwohl der Krebs schon zwei Jahre lang in seinem Körper steckte, er eine Operation, Bestrahlungen und Chemotherapien über sich hatte ergehen lassen. Er versuchte, sein ausgefülltes, vergnügliches Leben weiterzuleben, lief während eines Walking-Wettkampfs mit seinem Rollator neben den Läufern her und munterte sie auf. Im August starb er. Tatjana Wulfert

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