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Berlin: Justitia rennt

Im Gericht verschwindet die Akte eines Exhibitionisten. Wurde sie nur verlegt? Oder hat sie jemand gestohlen? Die Spur der Ermittler führt zurück ins Gericht

Exhibitionisten erregen, außer sich selbst, nur Spott oder Mitleid. Wer vor den Augen Fremder sein Geschlecht entblößt, wird zur jämmerlichen Witzfigur. Anders liegt die Sache, wenn die fremden Augen Kinderaugen sind wie die von Maik, Fränkie und Florian. Sie sind elf und zwölf und verbringen die Sommerferien 1997 in der Schwimmhalle am Lichtenberger AntonSaefkow-Platz. Als sie eines Mittags Ende Juli in die Umkleidekabine kommen, sitzt da ein Mann, der bei ihrem Anblick das Handtuch aufklappt und anfängt zu onanieren. Sagen tut er nichts. Er glotzt sie nur an. Sie rennen raus. Sie finden das eklig. Sie melden es dem Bademeister. Dem war schon aufgefallen, dass der Mann sich dauernd bei den Umkleidekabinen herumdrückt. Er ruft die Polizei. Die Sache geht ihren Gang. Erkennungsdienstliche Behandlung. Strafanzeige. Ende September wird der Mann, nennen wir ihn Klaus Möhrle, im Landeskriminalamt (LKA) 4134 als Beschuldigter vernommen. Vorwurf: sexueller Missbrauch von Kindern. Er habe sich bloß mit einer Lotion eingerieben, erklärt er, an seinen hektischen Bewegungen seien Frotteeflusen schuld, die er sich von der Vorhaut habe entfernen müssen, und dass es Kinder waren, habe er ohne Brille nicht erkannt.

Keine Gewalttat, nichts, was über die Adjektive eklig oder jämmerlich hinausgeht. Juristisch eine Bagatelle. Das zweiseitige LKA-Protokoll geht samt Formblatt mit Personendaten und zwei Seiten Schlussvermerk zur Jugendstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin (Ju). Die sitzt in einem architektonischen Dauerprovisorium in Alt-Moabit 5, einer früheren Jugendhaftanstalt. Der Beschuldigte ist zwar schon 33, aber die Geschädigten sind Kinder. Zum Schutz minderjähriger Opfer und Zeugen werden solche Verfahren immer von Ju ermittelt und vor Jugendrichtern (Amtsgericht) oder Jugendstrafkammern (Landgericht) verhandelt. Ju fertigt die Anklageschrift, Vorwurf: sexuelle Handlungen in Gegenwart von Kindern, nach den Ermittlungsunterlagen. Aus all diesen Papieren entsteht die so genannte Rotakte zu Klaus Möhrle, geboren 1963 in Süddeutschland, ledig, kinderlos, Pfleger, angestellt.

Am 3. November geht eine von Möhrle am 25. Oktober unterschriebene Zustellungsurkunde bei Thomas Rudolph ein. Der Justizhauptsekretär leitet eine Registraturabteilung im Amtsgericht Tiergarten. „Wir kriegen die Rotakten von der Staatsanwaltschaft geschickt. Damals wurden die noch mit laufenden Nummern ins Registerbuch eingetragen, Nummer und Abteilung gibt das Aktenzeichen“, erklärt er. Alles wird mehrfach erfasst, per Hand, im Format DIN A4 und DIN A6. Akten sind die Lunge der Rechtsprechung. Fehlt die Akte, stockt einem Verfahren nicht nur Atem, es erstickt im luftleeren Raum. „Dann wird eine Zählkarte angelegt und ein Karteikärtchen, damit man weiß, wo die Akte abgeblieben ist.“ Er lässt die Anklageschriften zustellen, und zu ihm kommen die Urkunden zurück. „Und siehe da: Bei einer fehlte die Akte.“

Thomas Rudolph ist heute 51 und alles andere als ein Aktenwurm. Dafür hat er viel zu viel Selbstironie, die er gern mit fröhlich-rauchigem Lachen unterstreicht. Aber Justiz ist nun mal eine Leidenschaft von ihm. „Guck dir die Justiz an in dem Staat, in dem du lebst“, hat er sich nach der Schule gesagt, „dann hast du so ungefähr den Überblick, wie es hier läuft und ob man hier bleiben kann oder nicht.“ Er bleibt. Seit 1973 arbeitet er im Amtsgericht Tiergarten, im Nebengebäude des berühmten Moabiter Kriminalgerichts. Hier „tobt das Leben“. Seit 1978 ist er im Jugendsektor. „Ist alles dabei. Wir hatten hier auch schon eine Mädchenbande gehabt. Vier Mädels – mein lieber Mann. Die haben zugeschlagen!“

Im Fall der fehlenden Akte vermutet Rudolph erst einmal falsche Ablage. „Bei den 3000 Akten im Zimmer! Ich hab erst mal die ganzen Regale durchgeguckt!“ Keine Rotakte Möhrle, Aktenzeichen Sowienoch. „Dann hab ich den Karteikasten durchgeguckt – keine Karte mehr da! In die Statistik geguckt – keine Zählkarte.“ Am Mittwoch, dem 5. November, weiß er: „Hier ist was faul.“ Freitag schickt er seine vereinsamte Zustellungsurkunde an die Zentraldatei und bittet um Überprüfung. Möhrles Vorname ist nicht eindeutig zu lesen. Dienstag kommt sie zurück mitsamt einem Auszug. „Es stimmte alles!“ Inzwischen ist der 11. November, aber die Mühlen der Justiz mahlen nun mal langsam, und die Aussicht wird ja rosiger. Auf dem Auszug steht nicht nur das Aktenzeichen des Amtsgerichts wie auf der Zustellungsurkunde, sondern auch das der ermittelnden Staatsanwaltschaft, und die hat immer eine Handakte mit Kopien aus der Rotakte und eigenen Notizen.

Inzwischen hat Rudolph sich das große Registerbuch genauer angesehen. „Und da fehlte eine ganze Seite!“ So säuberlich herausgetrennt, dass er erst anhand der laufenden Nummern drauf kommt. Jetzt wird er zum Ermittler in eigener Sache. Tagelang rekonstruiert er die Seite aus seinen Karteikästen und Rotakten und findet sogar den Durchdruck vom Eintrag Möhrle auf der Seite darunter. Dasselbe Aktenzeichen von Ju.

Vier Beweisstücke verschwinden von verschiedenen Orten? Das riecht nach Insider und ziemlich krimineller Energie. „Wenn man so lange hier arbeitet und seinen Laden in Schuss hat und man kriegt Akten geklaut, dann wird man stinksauer!“ Heute kann er darüber lachen. Damals macht ihm Kopfzerbrechen, dass es vielleicht ein Kollege, eine Kollegin war. Und was für ein Delikt muss das wohl sein!

Donnerstag, den 13. November ruft er bei Ju an. Mitarbeiter Rapp gibt ihm Möhrles Personalien und das angeklagte Sexualdelikt aus der Handakte durch und legt die zurück zu den „wegzufächernden Akten“. Rapp weiß noch nichts von der verschwundenen Rotakte und sieht seine Handakte da zum letzten Mal. Rudolph packt sich Zustellungsurkunde und Zentralregisterauszug so auf den Tisch, dass er sie gleich morgens sieht und weiterforschen kann.

Freitag früh sind auch die beiden Blätter weg. Er ruft wieder bei Rapp an. „Da sagt der mir: ,Du, stell dir vor, meine Handakte ist weg!’ Ich sage: ,Na, nun wird es aber interessant, bei mir ist nämlich alles weg.’“ Und nun kommt Tempo in die Sache.

Der zuständige Jugendrichter verfasst noch am Sonntag per Hand ein Schreiben an Ju, das er am Montag, dem 17. November, vormittags „durch besonderen Wachtmeister“ zustellen lässt. Inhalt: Bei uns sind alle Unterlagen weg, bitte um Doppel aus der Handakte und Einleitung eines Verfahrens von Amts wegen gegen unbekannt.

Rapp hofft noch, die Handakte bloß „verfächert“ zu haben. Oberstaatsanwalt Thomas Schilling dagegen, der Leiter der Abteilung 4 (Ju) der Staatsanwaltschaft Berlin, ahnt wie im Flash, was los ist. „Man muss natürlich auch Fortune haben. Denn dass innerhalb der Justiz Akten gestohlen werden, ist sehr ungewöhnlich, und mir war so was schon mal widerfahren“, erzählt er. Lange vor der Handy-Ära hatten sich Jurastudenten gelegentlich die Klausurfragen per Walkie-Talkie beantworten lassen. Anbieter: ein brillanter Rechtsanwalt. Der flog auf. Prozess. Zehn Monate auf Bewährung. Also ließ er seinen dynamischen Prozessbevollmächtigten die Akten abholen, zur Vorbereitung der Berufung. Die kamen aber nie zurück. „Und das waren nicht ein paar Dünnakten“, erzählt Schilling mit einem feinen maliziösen Lächeln, „das war ein richtiges Gürteltier, wie wir sagen!“ Durchsuchungsbeschluss, Durchsuchung der Wohnungen und Kanzleien beider Anwälte – eine Sache von 24 Stunden. Das Gürteltier ruhte gemütlich beim brillanten Anwalt und konnte dem Gericht wieder zugeführt werden.

Deshalb kitzeln die geklauten Akten sofort Schillings Ermittlerinstinkt. Und seine Sportlernatur. Schilling, Jahrgang 1947, war mehrmals Deutscher Meister als Hockeyspieler und ist begeisterter Hochseefischer. Alle zwei Jahre auf die Lofoten muss sein. Er hat knapp zehn Jahre Kap auf dem Buckel, Kapitalverbrechen. Und er war fünf Jahre Referent bei Justizsenatorin Jutta Limbach, bevor er 1994 zu Ju kam.

Anruf beim LKA 4134. Was steht in euern Akten? Aha, Sexualdelikt. Pfleger? Was für einer? Wo? Kann der da weitere Kinder belästigen? Personalien prüfen. Und plötzlich – zoing. Ein Ruck an der eilig ausgeworfenen Angel. Klaus Möhrle hatte bei der Kripo eine kleine Silbe vor seiner Berufsangabe unterschlagen. Er ist Rechtspfleger. Er pflegt die Verwahrung von Testamenten und Sicherheiten in der Hinterlegungsstelle im Amtsgericht Tiergarten. Und Beamter ist er auch, mit Hausausweis. Die Wachleute und Putzfrauen werden gefunden, die zu den rekonstruierten Tatzeiten in den verschiedenen Gebäuden waren und ihm Schlüssel ausgehändigt haben. Und seit einiger Zeit fehlen im Verkehrsgericht in der Kirchstraße OWi-Akten von Möhrle: Ordnungswidrigkeiten, Kleinkram wie Falschparken. Mindestens ein Verfahren ist deshalb geplatzt.

Jetzt ruckt die Angel richtig. Nicht dass Möhrle kriminalistisch ein dicker Fisch wäre – aber „wenn so was passiert, muss die Justiz reagieren, ganz schnell“.

Am nächsten Morgen holt Schilling einen Kollegen dazu, sie stellen Durchsuchungsanträge für Amtsraum, PKW und Wohnung von Möhrle und holen extra einen Richter aus der Verhandlung zum Unterschreiben. „Dann hab ich die Kripo angerufen: Sofortdurchsuchung. Die waren auch guter Dinge, das entsprach wohl auch nicht ihrer Routine.“

„Ja, war schon außergewöhnlich – weil wir mal Räume im Gericht durchsucht haben“, sagt Timo Hansen, 37, der heute im Stab der Direktion 2 strategisch und konzeptionell an Verbrechensbekämpfung arbeitet. Damals hatte er gerade Schichtbeginn bei der Sofortbearbeitung. Ab nach Moabit, zwei Staatsanwälte treffen. Auch ungewöhnlich. Bei Bagatellfällen hat man als Kripo nur Aktenverkehr mit denen. Auch ein LKA-Kollege ist da. 17 Uhr 50 Durchsuchung Dienstraum Möhrle. Keine Akte. Etwa gleichzeitig wird er selbst an seinem Auto festgenommen. Im Auto auch keine Akte. 18 Uhr 30, die Ermittler aus dem Gericht sind eingetroffen, Durchsuchung der Wohnung. Die wirkt auf alle mindestens junggesellig, und das nicht wegen der Bilder von kleinen Jungs überall. „Er war völlig geschockt, und es war ihm wohl peinlich“, beobachtet Oberkommissar Hansen. Oberstaatsanwalt Schilling glaubt: „Er hat nicht damit gerechnet, dass es in der Justiz auch mal schnell gehen kann.“ Die Rotakte liegt unter einem Haufen Zeitschriften, ein paar Seiten aus der Handakte und OWi-Akten in einem Papierstapel. Auf die Frage nach den Karten und der Registerseite „hat er immer nur so ominös gesagt: Die werden Sie nicht finden.“ Um 19 Uhr 45 sind sie wieder weg. Hansen schreibt seinen Bericht. Schilling und Kollege bereiten Möhrles Vernehmung am nächsten Morgen vor. „Und mit deren Ende war das Verfahren abschluss- und anklagereif“, resümiert Schilling. „Innerhalb von 48 Stunden.“ Die Anklageschrift braucht ein paar Tage länger. Dass der Prozess schon zwei Monate später stattfindet, befriedigt ihn noch heute. Auch der geht in zwei Stunden ohne Pause über die Bühne. Hier sieht Registrator Rudolph den Mann, der ihn zwei Wochen Arbeitszeit gekostet hat, zum ersten Mal. „Der saß da und hat nur die Wände angeguckt. Kein Ton, keine Regung, nix. Eine graue Maus, die in der Masse untergeht“, beschreibt er, ganz ohne Ironie. „Jeder, der hier arbeitet, weiß doch, eine Akte klauen ist das Dümmste – so ein Ding ist nie völlig aus der Welt.“

Möhrle wird verurteilt zu zehn Monaten Haft, auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt, und muss etwa 800 Mark Verfahrenskosten tragen. Eine Geldstrafe, urteilt die Richterin, „würde auf Unverständnis stoßen“, denn dass jemand aus der Justiz seine Stellung ausnutzt, um sich über das Gesetz zu stellen, „kann das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit der Strafjustiz erheblich erschüttern“. Zum Ende 1997 war Möhrle selbst aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden. Da war auch der andere, der ursprüngliche Prozess wegen des Sexualdelikts gelaufen. Er hatte alles, was Maik, Fränkie und Florian schilderten, eingeräumt. Das Verfahren wurde eingestellt gegen die Zahlung von 1000 Mark Bußgeld an das Kinderschutzzentrum Berlin. Seitdem hat sich Klaus Möhrle nichts mehr zuschulden kommen lassen. Am 7. September 2000 stellt die Richterin fest: „Der Veurteilte hat sich bewährt und bekommt die Strafe erlassen.“ Die für die völlig sinnlose Klauaktion.

Aktenklau nach diesem Modus Operandi ist in Berlin nicht mehr drin. Heute geht jede Akte über die Eingangsregistratur, also in eine Datenbank. Aktenzeichen werden schon dort vergeben, der ganze Werdegang gespeichert. Gut, gesteht Rudolph grinsend zu, auch das Pentagon hat Datenlecks. Aber selbst ein Superhacker würde die Daten nicht spurlos wegkriegen. Erst recht nicht in ein paar Jahren, wenn die Staatsanwaltschaft an das polizeiliche Computersystem Poliks angebunden wird.

„Aber mit Risiko muss man leben. Menschen, die ein bisschen gedanklich danebenhauen, wird es immer geben“, fasst der Registrator Rudolph zusammen. „Man kann Kriminalität nicht standardisieren, da muss schon ein Richter jeden einzelnen Fall persönlich prüfen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bevölkerung von Automaten verurteilt werden will.“

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