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Berlin: Kameltreiber, Lokführer und Erzähler

Gad Granach, 1936 ausgewandert nach Palästina, wird 91 und feiert in Berlin

Jede Stadt hat ihren geheimen Ort, den jeder kennt, aber niemand verrät. In Jerusalem waren es über Jahrzehnte gleich zwei: das Café Atara in der Ben-Jehuda-Straße, wo der Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin jeden Freitagvormittag Hof hielt, und das Haus Nr. 32 in der Radak-Straße, schräg gegenüber der Residenz des Staatspräsidenten.

Hier wohnte und wohnt noch immer Gad Granach, der zu Jerusalem gehört wie Felsendom, Klagemauer und Via Dolorosa. Wobei Granach mit „dem ganzen religiösen Zirkus in der Altstadt“ nichts anfangen kann. Denn in Jerusalem, wo er seit über 50 Jahren lebt, „ist eine Unterhaltung mit Gott ein Ortsgespräch“, und wenn er je auf die Idee käme, mit dem Allmächtigen reden zu wollen, würde er es vom Balkon seiner Wohnung aus machen und die Unterhaltung mit einem Witz anfangen, wahrscheinlich diesem: Ein Jude, der Selbstmord begangen hat, kommt in den Himmel. Am Eingang wird er schon von Gott erwartet. „Warum hast du das gemacht?“, grollt der Herr, „weißt du nicht, dass Selbstmord verboten ist?“ – „Ich hatte einen Grund“, antwortet der Jude, „mein Sohn hat sich taufen lassen.“ An dieser Stelle macht Granach gewöhnlich eine Pause. Aber die Geschichte geht noch weiter. „Na und“, sagt Gott, „meiner auch.“ – „Und wie hast du reagiert?“, fragt der Jude. „Ich habe ein Neues Testament gemacht“, antwortet Gott.

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Geschichte von Granach schon gehört habe, aber sie ist jedes Mal wieder komisch. Und Granach erzählt sie so, als würde er sie zum ersten Mal vortragen. Er erzählt seine Geschichten nicht, er zelebriert sie. Und wenn er auf seinem Balkon am Samstagnachmittag Hof hält, kommen seine alten Freunde und bringen neue Gäste mit, die in Jerusalem zu Besuch sind und alles erwarten, nur nicht ein privates deutsches Kulturinstitut in einer Zwei-Zimmer-Wohnung auf dem Dach eines unauffälligen Hauses im Stadtteil Rehavia.

Als Freund und Verleger von Granach bin ich ihm gegenüber vollkommen befangen. Ich versuche nicht einmal, distanziert zu sein. In den Jahren, in denen ich in Jerusalem gelebt habe, war er für mich das Licht am Ende eines langen Tunnels. Wann immer es um Christen ging, die am „Jerusalem-Syndrom“ kollabierten, Juden, die sich auf die Ankunft des Messias vorbereiten, Moslems, die sich den Weg in den Himmel freibombten – er konnte alles erklären. „Wenn man eine große Stoffplane über das Land ziehen würde, wäre es eine geschlossene Anstalt.“ Nur über seinem Balkon würde eine Lücke offen bleiben, durch die man den Himmel sehen, frische Luft atmen kann.

Granach, 1915 in Rheinsberg geboren und in Berlin aufgewachsen, ist 1936 nach Palästina emigriert. Sein Vater, der Schauspieler Alexander Granach, floh in die Schweiz und ging später nach Amerika, wo er 1945 starb. Von ihm hat Granach viel geerbt: den ironischen Blick auf die Welt, die Liebe zu den Frauen, das Talent zum Unterhalter. Eine Schule hat er nicht beendet, aber viel gelernt: Porträtfotograf, Maurer, Backofenbauer. In Palästina hat er in jedem Beruf gearbeitet, den das Land anzubieten hatte: Hilfspolizist im Kibbutz, Schmalspurlokomotivführer am Toten Meer, Kameltreiber beim Straßenbau, Mädchen für alles bei archäologischen Expeditionen. Er kann noch heute, wie es sich für einen deutschen Bildungsbürger im Exil gehört, Texte von Heine, Goethe, Tucholsky auswendig hersagen und die Rollen rezitieren, die sein Vater bei Max Reinhardt gespielt hat. Und anders als viele deutsche Juden, die nach Palästina ausgewandert sind, hat er sogar Hebräisch gelernt.

Am Mittwoch, 19.30 Uhr, feiert Granach seinen 91. Geburtstag. In Berlin, im Jüdischen Museum. Er wird Geschichten über das Leben und die Liebe, Gott und die Welt erzählen und zusammen mit Annette Postel alte Chansons singen. Alle Freunde und Verehrer sind eingeladen, mitzufeiern. Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder.

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