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Wende im Leben. Einst war er Kameramann. Heute führt er unter anderem ein Restaurant unter den S-Bahn-Bögen an der Friedrichstraße.

© Ralf Gründer [www.focusart.de]

Kameramann Herbert Ernst: Zoom auf die Vergangenheit

Mauerbau, Fluchtszenen, Panzerkonfrontation: Als Kameramann hat Herbert Ernst Geschichte festgehalten. Heute ist er Antiquitätenhändler und Gastronom.

Ein schwer verletzter Mann liegt wie ein nasser Sack in den Armen eines Grenzsoldaten. Der hievt den leblosen Körper über den Stacheldrahtzaun nahe dem Checkpoint Charlie. Hauptsache, schnell weg aus dem Blickfeld, weg aus der Öffentlichkeit. 58 Sekunden dauert die körnige Filmsequenz, die den Abtransport des 18-jährigen Peter Fechter zeigt. Eine Szene, aufgenommen 50 Minuten nachdem der Maurergeselle beim Fluchtversuch von DDR-Grenzern beschossen wurde und wenige Stunden bevor er seinen Verletzungen erliegt. Es ist der 17. August 1962.

Gefilmt wurde diese Szene von Herbert Ernst. Der damals 23-jährige West-Berliner war einer von rund einem Dutzend Kameraleuten, die in jenen Tagen die Geschehnisse rund um die Mauer dokumentierten. An diesem Freitag im August, glaubt Ernst, war er der Einzige, der die Ereignisse aufzeichnete. Die von ihm gedrehte Sequenz, der gescheiterte Fluchtversuch, gehört mittlerweile zum Unesco-Weltdokumentenerbe. In weniger als einer Minute zeigt sie organisiertes Verbrechen und Grausamkeit des SED-Regimes in Schwarz und Weiß.

"Es war Zufall, dass ich vor Ort war"

Szenenbilder dieser und anderer Sequenzen, die Herbert Ernst in den Jahren 1961 und 1962 filmte, sind nun in dem Buch „Niemand hat die Absicht …“ von Ralf Gründer erschienen. Ernst selbst hat mittlerweile das Metier gewechselt, ist Betreiber eines Antiquitätengeschäfts und eines Restaurants in den S-Bahn-Bögen an der Friedrichstraße. An den Tag seiner bekanntesten Aufnahme erinnert sich der 77-Jährige noch genau.

„Es war Zufall, dass ich vor Ort war“, erzählt der Berliner. Er habe Filmrollen in einem Geschäft in der Friedrichstraße gekauft, als er plötzlich Schüsse hörte. Von einem Podest aus habe er den Abtransport Fechters beobachten können – und gefilmt. Kopf aus, Kamera an, funktionieren. „Man denkt nicht lange nach, man will die Aufnahmen haben.“

Der Kameramann arbeitete zunächst für die Wochenschau, später als Freier für German Television News und Fernsehagenturen in der ganzen Welt. Speditionskaufmann, den Beruf hatten sich die Eltern eigentlich für ihren Sohn gewünscht. Fernsehen, das habe doch keine Zukunft, hatten sie gesagt. Der Sohn sah das anders, wollte hinter die Kamera. Sein Thema: die Mauer. Knapp vier Jahre lang fuhr er mit seinem blauen VW die Sektorengrenze auf und ab. Zehn bis zwölf Stunden am Tag. 365 Tage im Jahr. „Was anderes gab’s für mich nicht.“

Film ab: Herbert Ernst bei der Arbeit mit seiner Arriflex-Kamera. Eine seiner Aufnahmen gehört zum Unesco-Weltdokumentenerbe.
Film ab: Herbert Ernst bei der Arbeit mit seiner Arriflex-Kamera. Eine seiner Aufnahmen gehört zum Unesco-Weltdokumentenerbe.

© Fotoarchiv Herbert Ernst

Eine Mauer aus Kampftruppen, aus Holz, Stacheldraht

Beginn der Grenzschließung am 13. August 1961. Erste Barrikaden. Eine Mauer aus Kampftruppen, aus Holz, Stacheldraht, Beton. Dann die Zwangsräumungen, Häuserabriss, Todesstreifen. Und die Liebespaare und Familien, die sich nicht trennen lassen wollten, Menschen, die sich gegen das Einkesseln wehrten. Fluchtversuche, geglückte und erfolglose. Gedenken an die Opfer, Blumen und Kerzen, Proteste. Brandenburger Tor, Potsdamer Platz, Checkpoint Charlie – alles aufgenommen durch das Objektiv einer 16-Millimeter-Kamera, Marke Arriflex. „Ganz am Anfang konnte sich das keiner vorstellen, dass das mit der Mauer dauerhaft ist“, erinnert sich Herbert Ernst, „aber dann hat man irgendwann gemerkt, die machen das wirklich.“

Wenn er unterwegs war, hatte er Stativ, Kamera, Filmrolle und Ersatzakku dabei. Beladen wie ein Maulesel, sagt er heute. „Woran hat man die Kameraleute erkannt? An den langen Armen“, witzelt er. Aber in seinen jungen Jahren und mit seinen 1,90 Meter habe er das gut wegstecken können. Tag für Tag. Filmen, entwickeln lassen, schneiden, versenden. Wo und wie das Material verbreitet wurde, bekam Ernst meist nicht mehr mit. Darauf hatte er keinen Einfluss. Verwertungsnachweise erhielt er nicht.

"Sie wurden einfach nicht anerkannt

Laut Unesco-Verzeichnis befindet sich die Original-Filmrolle der Szene mit dem jungen Peter Fechter heute im Besitz von Spiegel TV. Dort behauptet man aber, nur eine Kopie zu besitzen. Fakt jedenfalls ist, dass nirgendwo der Name des Urhebers auftaucht. Für ein Tageshonorar von 100 D-Mark hatte Ernst die Rolle damals an German Television News weitergegeben. Wie sie dann verbreitet wurde, weiß er nicht. Copyright-Stempel wie bei den Fotografen gab es für Kameraleute zur damaligen Zeit nicht, von wem die aufgenommene Sequenz stammte, interessierte nicht. Während sich gute Fotografen einen Namen machten, blieb Ernst, blieben auch anderer Berliner Kameraleute unbekannt.

„Sie wurden einfach nicht anerkannt“, ärgert sich Ralf Gründer, Journalist und Autor des Buches „Niemand hat die Absicht ...“. Er will Ernsts Namen bekannter machen und ihn darin unterstützen, die Nutzungsrechte zu erhalten und die Nennung seines Namens durchzusetzen. „Eigentlich ist es völlig egal nach so langer Zeit“, sagt Ernst. „Aber irgendwie ärgert es einen doch.“

Das Dokumentarfilmen hat Ernst bereits einige Jahre nach dem Bau der Mauer ad acta gelegt. „Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, rumzurennen und jeden Tag nur Mauer, Mauer, Mauer zu filmen“, sagt er heute. Mitte der 1960er Jahre hat er als Produzent Kurzfilme gedreht, Anfang der 1970er hat er die Kamera dann ganz beiseitegelegt und wurde Kunst- und Antiquitätenhändler im stillgelegten U-Bahnhof Nollendorfplatz.

"Zugleich hat es meine Existenz kaputt gemacht"

Mit der Wiedervereinigung musste er das aufgeben. Der Bahnhof wurde wieder in Betrieb genommen, Antikmarkt und Restaurant mussten weg. „Das war dramatisch. Ich habe viel geheult“, erinnert sich Ernst an jenen Tag im Jahr 1989. „Als Berliner habe ich mich natürlich wahnsinnig gefreut, aber zugleich hat es meine Existenz kaputt gemacht.“

Wiederaufbauen konnte er sie einige Zeit später in den S-Bahn-Bögen an der Friedrichstraße, wo er noch heute sein Geschäft betreibt. Auf dem Weg zur Arbeit fährt er jeden Tag am Brandenburger Tor vorbei, dort, wo einst der Mauerstreifen verlief. Es sei ein gutes Gefühl, zu wissen, dass die Zeit der Teilung passé sei. Trotzdem wünsche er sich von den Leuten in Berlin ein bisschen mehr Geschichtsbewusstsein. Die Vergangenheit gehöre nun mal zur Stadt, betont Herbert Ernst.

Würde er jetzt noch einmal eine Kamera in die Hand nehmen, würde er gerne eine Komödie drehen, sagt Ernst. Er würde eine Geschichte zum Lachen erzählen, statt die Realität abzubilden. Aber dazu, sagt der 77-Jährige, müsse er erst die ganze neue Technik verstehen. Ralf Gründer: „Niemand hat die Absicht ...“, Berliner Wissenschafts-Verlag, 456 Seiten, 39 Euro.

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