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Die gebürtige Kanadierin und Wahlberlinerin Shasta Ellenbogen bricht mit den Gepflogenheiten der großen Konzertsäle und organisiert die „Classic Sundays“ zum Beispiel in Bars. Die erinnern manchmal an historische Hof- und Salonmusik: Da übertönt der Lärm schon mal die Musik. Perfektion sieht Ellenbogen kritisch.

© Kai-Uwe Heinrich

Kammermusik bei "Classical Sundays": Klassik - aus dem Konzertsaal ins wahre Leben geholt

Mit einer besonderen Konzertreihe will Shasta Ellenbogen Kammermusik zugänglicher machen – aber das ist gar nicht so leicht.

Eine Altbauwohnung irgendwo in Berlin-Neukölln. Weite Flügeltüren, Dielen, Krempel und Briefe vom Jobcenter, mehr oder minder gleichmäßig über den Raum verteilt. Es ist die Wohnung eines Freundes, der sie netterweise für die Probe zur Verfügung stellt, erklärt die Ensembleleitung. Das Ensemble ist schon da, vier Musiker stellen sich einander vor und packen ihre Instrumente aus. Violine eins und zwei, Bratsche, Cello. Sie bauen ihre Notenständer auf, wechseln einige Worte und spielen los – die Dielen knarzen im Rhythmus, ein Schrank wackelt in Passagen erhöhten Körpereinsatzes und je nach Tonhöhe schwingen verschiedene Gegenstände mit.

Das sind keine idealen Probenbedingungen für professionelle, an den besten Hochschulen der Welt an ihren Instrumenten ausgebildete Musiker. Aber es gehört zum Konzept. Schon eineinhalb Stunden später werden diese vier Menschen, die großteils noch nie zusammen gespielt haben, das achte Streichquartett von Dimitri Schostakowitsch vor Publikum aufführen. Ausgerechnet das berühmte achte, das mit dem autoritären KGB-Türklopfmotiv im vierten Satz, bei dem die Hörer jeden Fehler, jede Unregelmäßigkeit, jedes Abweichen von der Aufführungskonvention sofort erkennen. Auch die Aufführungsbedingungen werden nicht ganz optimal sein. Das Konzert findet im Laidak statt, einer Neuköllner Raucherbar mit so dicker Patina an den Wänden, dass die im Grundbuch eingetragene Quadratmeterzahl vermutlich längst nicht mehr zutrifft. Gäste sind es gewohnt, hier näher zusammenzurücken. Klassische Musiker nicht. Neben der Sicherheit der Instrumente macht ihnen vor allem das Rauchen Sorgen – eine gesicherte Sauerstoffversorgung von Gehirn und Muskulatur ist nicht nur für das triviale Überleben sondern auch beim Musikmachen unabdingbar.

Als das Quartett den Raum betritt, ist der schon bis zum letzten Platz voll. In der Mitte ist noch etwas Luft für das Ensemble reserviert, schon für die Notenständer reicht es aber kaum. „Sieht so aus, als bekämst du einen Lapdance von mir“, scherzt die Ensembleleitung mit einem Gast in der ersten Reihe. Die Ensembleleitung, das ist Shasta Ellenbogen, vor etwas über dreißig Jahren in Ottawa geboren, in London und Amsterdam zur Bratschistin ausgebildet, Studienabbrecherin, Komponistin und überzeugte Vermittlerin der klassischen Musik. Nicht die alte Musik ist mit der Gegenwart unvereinbar, meint sie, sondern der Klassikbetrieb. Mit ihrem Format „Classical Sundays“ holt sie die Kammermusik aus ihrer schützenden Festung und setzt sie den Widrigkeiten des Lebens aus, macht sie angreifbar und verwundbar. Und genau dadurch zugänglich.

Mit dem Format "Classical Sundays" holt Shasta Ellenbogen die Kammermusik aus ihrer schützenden Festung.
Mit dem Format "Classical Sundays" holt Shasta Ellenbogen die Kammermusik aus ihrer schützenden Festung.

© Kai-Uwe Heinrich

Gerade in der Klassik werden die Musiker schon als Kinder und Jugendliche auf Perfektion getrimmt, erzählt sie. Die Konkurrenz ist gewaltig, die verfügbaren Preise, Stipendien und Festanstellungen extrem begrenzt, da fällt jedes Detail in die Waagschale. Folglich ist das Leben in dieser Branche oft durchzogen von Prekarität, Versagensängsten, Neid und geradezu übermenschlichen Ansprüchen. „Wenn Menschen ins Konzert gehen, dann gerade um sich für die Nuancen der Gefühlswelt zu öffnen und etwas zu spüren – und die einzige Möglichkeit, all diese unterdrückten Gefühle vor dem Publikum zu verstecken, scheint eben die technische Perfektion. Aber wer bitte kann sich schon wohlfühlen in der Gegenwart unnahbar perfekter Übermenschen?“, fragt Ellenbogen mit Blick auf die klassische Musikvermittlung.

"No time for everybody's bullshit"

Ihr Ansatz ist eine radikale Absage an die Makellosigkeit. Ein Dogma klassischer Aufführungspraxis ist die Unterscheidung zwischen erster Probe und Generalprobe, zwischen denen ein Reflexions- und Optimierungsprozess stattfindet, der die Performanz bühnenreif machen soll. Bei „Classical Sundays“ gibt es dagegen nur eine Probe unmittelbar vor dem Konzert – und jedes Mal ein neu zusammengestelltes Ensemble. Die Zeitverknappung bedeutet „no time for everybody’s bullshit“, sagt Ellenbogen, das heißt, keine Zeit für Befindlichkeiten, für geltungsbedürftige Egos und die ewige Optimierung aller Details. „Die Energie, die man normalerweise in die völlige Kontrolle steckt, fließt so zwangsläufig in das gegenseitige Vertrauen. Und das Vertrauen in die Musik.“

Das Publikum gibt ihr recht. Die Konzerte, die in den vergangenen zwei Jahren überwiegend in der „Werkhalle Wiesenburg“ in Wedding stattfanden, waren sehr gut besucht. Dennoch muss das Format in Förderanträgen zum Hochglanz-Spektakel mit möglichst vielen Preisträgern hochstilisiert werden, um sich zu qualifizieren. „Für die Kombination aus bodenständiger Kammermusik und Sport“, überspitzt Ellenbogen, „gibt es einfach keine Fördertöpfe.“ Deshalb hat sie auf der Crowdfunding-Plattform Indiegogo eine Spendenkampagne ins Leben gerufen, die das Format mit bescheidenen 10.000 Euro fürs Jahr 2020 sichern soll.

Das Türklopfmotiv ist später an der Bar zu hören

Musik und Sport – der Gedanke liegt nah, dass die Qualität der Musik dabei zu kurz kommen könnte. Es soll aber nicht der Eindruck entstehen, mit der Werktreue werde es hier nicht so genau genommen, sagt Ellenbogen. Die Musiker sind durchweg hervorragend, wissen genau, was sie tun, und haben den Anspruch, die Kompositionen im Sinne ihrer Schöpfer darzubieten. In vielen Fällen dürfte diese Praxis sogar recht nah an den historischen Bedingungen von Hof- und Salonmusik sein, wo immerzu neue Stücke mit relativ wenig Vorbereitung in wechselnden Besetzungen aufgeführt wurden.

Das Setting unterstreicht deutlicher als andere Formate die Fragilität von Kammermusik. Gerade diese vermeintliche Schwäche wird ihre Stärke. Dass sie nämlich zerbrechlich wirkt, ist ihr Alleinstellungsmerkmal im Berliner Nachtleben. Und selten hat man sie so zerbrechlich erlebt. Die Darbietung profitiert vom Risiko, dass das Leben hineinbrechen kann. So kommt es vor, dass Barlärm eine Pianissimo-Passage überlagert oder mittendrin jemand hereinkommt. Musik, die leiser ist als das Atmen des Publikums, lässt sich nicht lauter drehen. In der Tat leidet sie darunter. Aber das lässt sie kostbar erscheinen, nicht selbstverständlich – und das Publikum hält die Luft an. Es funktioniert. Am Ende Applaus, Pfiffe und Glückwunsch-Schreie anstelle des in Konzertsälen kultivierten „Bravo“, das für Gelegenheitsbesucher der Klassik-Sphäre stets befremdlich bleibt.

Als später einer länger auf sein Bier wartet, schlägt er dreimal auf den Tresen. Es ist unverkennbar das Türklopfmotiv aus dem vierten Satz des eben gehörten Schostakowitsch-Quartetts, rhythmisch sauber, aber etwas zu laut intoniert.

Infos: https://www.facebook.com/classicalsundays/. Nächstes Konzert am 26. Januar um 19 Uhr im „Ausland“, Lychener Straße 60.

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