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Beginn der Covid-Impfungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Klinikum Ernst von Bergmann Potsdam - im Dezember 2020.

© Klinikum Ernst von Bergmann

Kampf gegen Corona im ländlichen Raum: IHK Potsdam fordert sofortige Impfungen durch Betriebsärzte

In Teilen Brandenburgs gibt es weder genügend Ärzte noch Verkehrsmittel, um alle Menschen schnell zu impfen. Der Mittelstand könnte helfen. Ein Gastbeitrag.

Unternehmen müssen ins Impfen eingebunden werden. Nicht irgendwann, sondern umgehend. Ohne dass wir in Deutschland temporäre Impf-Orte schaffen, an denen kurzfristig eine große Zahl an Personen versorgt werden kann, werden wir in wenigen Wochen in ein neues Impfdilemma laufen. Wenn heute noch der Impfstoff-Mangel den Flaschenhals bildet, so wird es bei zunehmender Zahl von Dosen sehr schnell die Zahl verfügbarer Ärztinnen und Ärzte sein.

Dass Deutschland sich beim Impfmanagement bisher nicht gerade hervorgetan hat, ist Konsens. Umso mehr müssen wir uns jetzt gut aufstellen. Denn nach aktueller Prognose des Bundesgesundheitsministeriums sollen im Mai wöchentlich für die Arztpraxen gut 1,5 Millionen Impfdosen allein von Biontech zur Verfügung stehen, ab Juni mit den Lieferungen aller Hersteller an die Impfzentren sogar mehr als zehn Millionen.

Wer aber soll all diese zeitnah verimpfen? Die Länder und Kommunen werden für den Zeitraum weniger Wochen kaum weitere Impfzentren aufbauen, manche sprechen sogar vom Rückbau in der Fläche. Und die Hausärzte können ihre regulären Patienten nicht vor der Tür stehen lassen. Abwarten und die Kühlschränke füllen, darf indes keine Option sein.

An der Einbindung der Wirtschaft ins großflächige Impfen führt daher kein Weg vorbei: BASF, Volkswagen, Lufthansa, Daimler und die Allianz mögen Aushängeschilder der deutschen Industrie sein, repräsentativ für unsere Volkswirtschaft sind sie jedoch nicht. Zwar werden über diese lobenswerten Initiativen Zehntausende geimpft, sie verschaffen politischen Druck und mediale Sichtbarkeit. Doch können sie nur Leuchttürme sein, ohne jedoch Licht in die Fläche zu bringen.

Das eigentliche Rückgrat unserer Wirtschaft liegt im Mittelstand, bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU). Wir werden es in diesem Sommer im Wahlkampf wieder häufig sehen – Politiker auf Firmenbesuch, die Familienbetriebe ihres Wahlkreises rühmen und sich neben einer Werkbank mit Auszubildenden ablichten lassen. Weshalb werden dann aber genau diese Betriebe derzeit weitestgehend ausgeblendet, wenn es um die Pandemiebekämpfung geht? Diese Unternehmen können und wollen ihren Beitrag leisten, um die Bevölkerung schnellstmöglich zu impfen!

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Welches Potenzial hier liegt, verdeutlicht der Blick auf die Zahlen, denn weit mehr als die Hälfte aller Unternehmen in Deutschland sind KMU. Im Jahr 2019 zählten diese mehr als 30 Millionen Angestellte und damit fast Dreiviertel aller Erwerbstätigen und sie stellten mehr als 80 Prozent aller Auszubildenden in der Wirtschaft.

Mario Tobias ist der Hauptgeschäftsführer der IHK Potsdam. Dies ist der Fläche nach Deutschlands zweitgrößter Kammerbezirk.
Mario Tobias ist der Hauptgeschäftsführer der IHK Potsdam. Dies ist der Fläche nach Deutschlands zweitgrößter Kammerbezirk.

© Stefan Specht/IHK Potsdam

In Großstädten und Ballungsgebieten mögen die Wege kurz und Arztpraxen oder kommunale Impfzentren gut erreichbar sein. Für große Teile Deutschlands gilt dieses nicht. Das Fehlen von Land- und Hausärzten ist in aller Munde, und durch den massiv ausgedünnten Öffentlichen Nahverkehr wird in den Landkreisen der Besuch der Arztpraxis für viele zur Tagesreise. Die Wirtschaft kann hier eine Lücke schließen.

"Unternehmer sind längst bereit, ihre Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen"

Der Blick auf die Wirtschaftsgeografie Deutschlands zeigt ein weiteres Argument für die Notwendigkeit der Einbindung kleiner und mittlerer Betriebe ins Impfen. Großkonzerne finden sich konzentriert vornehmlich in den städtischen Ballungsgebieten im Süden und Westen unseres Landes.

Dax-Konzerne beispielsweise sucht man in den Neuen Ländern, in Schleswig-Holstein oder im Saarland vergebens und die Definition von „Mittelstand“ beginnt hier gefühlt bei 100 statt bei 1000 Mitarbeitenden. Ein Vorteil dieser kleinteiligen Struktur aber ist, dass die Entscheidungswege sehr kurz sind. Häufig reicht ein Anruf und die Antwort kommt sofort „Wir sind an Bord, übermorgen können sie kommen“. Dieser Pragmatismus ist es, der Mut macht, an Impfkonzepten für KMU zu arbeiten. Die Unternehmerinnen und Unternehmer sind längst bereit, ihre Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen.

[Gastautor Mario Tobias (49) ist Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Potsdam. Der Kammerbezirk Potsdam ist mit 13.226 Quadratkilometern flächenmäßig der zweitgrößte in Deutschland mit sechs Landkreisen, der kreisfreien Stadt Brandenburg an der Havel sowie der Landeshauptstadt Potsdam. Zur IHK Potsdam gehören rund 82.000 Mitgliedsunternehmen.]

Als Industrie- und Handelskammer mit einem großen ländlichen Raum plädieren wir für den folgenden Ansatz: Umgehende Einbindung von KMU als temporäre Impf-Orte und Durchimpfen nicht nur von Belegschaften, sondern gleichzeitig auch deren Familienangehörigen, ortsansässigen Zulieferern, Handwerksbetrieben und, warum denn nicht, auch von „Lieschen Müller“ aus dem Nachbardorf.

Wenn es in anderen Ländern, die wir mit unserer deutschen Gründlichkeit oft genug belächeln, möglich ist, nebenbei im Einkaufszentrum oder Drive-Thru geimpft zu werden, weshalb sollten dann Anwohner nicht von einem Betrieb in ihrer Nachbarschaft profitieren dürfen?

Unsere IHK kann leicht diese „Ankerbetriebe“ für jedes Gewerbegebiet identifizieren und ansprechen, Informationen vorbereiten und sich über den DIHK bundesweit auch über föderale Grenzen hinweg austauschen, um aus guten Beispielen zu lernen und das Rad nicht überall neu zu erfinden.

"Warum nicht sogar Zahnärzte oder sogar Veterinäre ansprechen?"

Was es seitens der Politik braucht, ist die Aufhebung der Impf-Priorisierung ab dem frühestmöglichen Moment, in dem wir ausreichende Impfverfügbarkeit haben. Über die Impfverordnungen sollten die sogenannten Single-Shot-Vakzine primär für das betriebliche Impfen zugewiesen werden, um so die Logistik in der Fläche zu entlasten. Eine vereinfachte Abwicklung von Abrechnungsfragen und Dokumentationspflichten für Betriebsärzte und mobile Impfteams muss gewährleistet sein. Zudem ist ein Höchstmaß an Flexibilität gefragt.

Weil Ärzte bei den Impfungen anwesend sein müssen und Mangelware sind, sollte neu gedacht werden: Warum nicht Amtsärzte in die Unternehmen schicken, warum nicht frisch pensionierte Mediziner für einige Wochen reaktivieren oder Zahnärzte oder sogar Veterinäre ansprechen? Wie groß müsste eine Krise erst werden, damit wir pragmatisch handeln?

Der amerikanische Präsident Joe Biden hat es im American-Style markant auf den Punkt gebracht: Es geht um „shots in arms and money in pockets“. Beides hängt direkt zusammen: Um das „money in pockets“ hat sich die Politik durch milliardenschwere Hilfsprogramme bereits frühzeitig gekümmert. Nun muss die Politik beweisen, dass Deutschland handlungsfähig ist und bürokratische Hürden vermieden werden, um das „shots in arms“ zu realisieren.

Unternehmerinnen und Unternehmer wollen lieber ihr eigenes Geld verdienen, anstatt dem Staat auf der Tasche zu liegen. Aber dazu müssen wir alle geimpft sein und dafür dürfen wir den Mittelstand nicht auslassen. In diesem Fall ist er nicht nur das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft, sondern auch ihr Immunsystem.

Mario Tobias

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