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Lötzschland wird umbenannt. In Lichtenberg hatte die Linkspartei ihr Direktmandat für den Bundestag fast immer sicher. Im Herbst könnte sich das ändern.

© Kitty Kleist-Heinrich

Kampf um die Direktmandate: Angriff auf Lötzschland

Lichtenberg war eine der drei Hochburgen der Linken. Doch der Bezirk wandelt sich durch Zuzügler und junge Familien. Plötzlich wanken die alten Milieus – das hat politische Folgen.

Von Matthias Meisner

Das blaue Halstuch der Jungpioniere trägt er erst ein paar Monate, da fällt die Mauer. Und Erik Gührs, Erstklässler aus Hohenschönhausen, ist „ziemlich sauer“. Gührs wohnte mit seinen Eltern in der Platte am Prerower Platz, die Schule gleich um die Ecke. Fast jeden Tag drängelte Erik seine Mutti, sie solle ihn früh vom Hort abholen. Am 10. November 1989 aber kamen die Eltern verdammt spät zurück aus West-Berlin. Wenigstens brachten sie ihm Spielzeug und ein Asterix-Heft mit.

So beginnt die Geschichte eines jungen Ost-Berliners, der die Grenzen der Parteienlandschaft im vereinigten Deutschland neu ziehen will. Bei der Bundestagswahl am 22. September fordert der Ex-Pionier eine gelernte DDR-Bürgerin heraus: Gesine Lötzsch, Philologin, 51, bis 2012 zwei Jahre lang glücklose Parteivorsitzende der Linken. Gührs, 30, ist der aufstrebende neue Kandidat für die SPD im Wahlkreis Nummer 86, Berlin-Lichtenberg. Lötzsch hat den Bezirk seit 2002 immer gewonnen, beim letzten Mal mit 29 Prozentpunkten Vorsprung vor dem damaligen SPD-Bewerber. Sie wohnt in der Siedlung, in der Gührs groß geworden ist. Und sieht täglich, dass der Kiez sich verändert. Zu ihren politischen Ungunsten?

Gührs trägt einen stylishen Vollbart, für das Foto auf dem Bewerbungsschreiben für die SPD-Mitgliederbefragung hat er einen roten Schal um den Hals gelegt, so wie Walter Momper und Franz Müntefering. Er selbst ist seit einem Jahr Chef der SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung. 17 Abgeordnete stellen die Sozialdemokraten dort, die Linke hat nur drei Leute mehr. Sind die Sozialisten den Sozialdemokraten in Lichtenberg doch nicht mehr so krass überlegen?

Erik Gührs, SPD-Kandidat: "Die Linke zu schlagen, wäre natürlich ein Knaller."
Erik Gührs, SPD-Kandidat: "Die Linke zu schlagen, wäre natürlich ein Knaller."

© promo

Gührs ist Physiker, seine Doktorarbeit hat er vor ein paar Tagen eingereicht, Thema: Holografie. Vielleicht geht der „junge, frische Kandidat am Beginn seines Lebens“ (Eigenlob) ja anders an ein politisches Projekt heran, akribischer: Er will nicht nur um das Direktmandat in seinem Bezirk kämpfen, sondern für das Aus der Linkspartei im Bund. Deren Genossen fürchten im September die Fünfprozenthürde. Für diesen Fall brauchen sie wenigstens drei Direktmandate, um trotzdem in den Bundestag einzuziehen. Die Plattform www.election.de notiert derzeit bundesweit für drei Wahlkreise ein „Linke wahrscheinlich“: Neben Lichtenberg sind das die Hochburgen Marzahn-Hellersdorf (Petra Pau) und Treptow-Köpenick (Gregor Gysi). Die Geschichte, die Gührs schreiben will, ist eine kühne: Er will die eigenständige Mehrheit von Rot-Grün erkämpfen, indem er Lötzsch das Direktmandat abnimmt. „Das wäre natürlich ein Knaller“, malt er sich aus.

Vor einigen Jahren baute Lötzsch ihre Macht im Bezirk aus

Im Wahlkreis hat Lötzsch eine „unheimliche Präsenz“, sagt Erik Gührs.
Im Wahlkreis hat Lötzsch eine „unheimliche Präsenz“, sagt Erik Gührs.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Linken wissen um die Gefahr. „Wir wissen, dass keiner der Wahlkreise im Berliner Osten mehr für uns gesetzt ist“, sagt Katarina Schubert, Landesgeschäftsführerin der Berliner Linken. Jetzt tobt auch noch, pünktlich zum heute beginnenden Parteitag der Linken, die Stasidebatte um Gysi – vielleicht schadet sie der Partei im Westen mehr, aber im Osten nutzt sie ihr gewiss auch nicht.

Besonders mutig ist der Angriff des jungen Gührs – aber auch logisch. Denn Lichtenberg wandelt sich, immer mehr Zuzügler und junge Familien verändern das Bild des Bezirks, immer neue Wohnquartiere entstehen, auch hochwertige. Doch die alten Zeiten sind noch da. Wer sich dem Bezirk vom Alexanderplatz aus nähert, bekommt gleich an der Ecke Landsberger Allee/Weißenseer Weg signalisiert, wo er ist: Eine meterhohe Uhr dreht sich, nicht nur zu Wahlkampfzeiten. „Gesine Lötzsch, direkt gewählt – direkt erreichbar“, die Politikerin teilt sich die Werbetafeln an der Uhr mit einem Autohaus. Lichtenberg, einst war das Stasi-Hochburg, der Geheimdienst hatte hier die Zentrale und sein Untersuchungsgefängnis. Am Orankesee wohnte DDR- Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski. Als die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Gysi publik wurden, setzten sich die Genossen aus dem Bezirksvorstand gleich am nächsten Tag zusammen und verfassten eine empörte Erklärung gegen „dieses Spiel“ und die angebliche „Kampagne“ der Springer-Presse: „Gregor Gysi hat das Vertrauen des Lichtenberger Bezirksverbandes.“

Vor einigen Jahren baute Lötzsch ihre Macht im Bezirk aus. Sie gründete den Verein „Gemeinsam in Lichtenberg“, ließ sich zur Vorsitzenden wählen und besetzte alle anderen wichtigen Vorstandsposten mit Parteifunktionären. Zentrale Aktivität des Vereins, der sich die Gemeinnützigkeit bescheinigen ließ, war die Herausgabe der Kinderzeitung „Zuckiti“, gestaltet nach Vorbild des DDR-Heftes „Bummi“. Bilder von Lötzsch, mal bei den Pinguinen im Tierpark, dann beim vom Verein organisierten Frühlingsfest. Politiker anderer Parteien wurden in der Zeitung nicht erwähnt. Das Blatt wurde in Kindergärten verteilt, die dafür zahlen mussten. Bis die städtische Betreibergesellschaft Kita Nordost vor einem Jahr mal ein paar Fragen stellte. Ein Heft produzierte das Lötzsch- Team noch, dann wurde „Zuckiti“ eingestellt. „Die Kinderzeitung war eine Grenzüberschreitung“, findet Kai-Uwe Heymann. Er ist gebürtiger Dresdner, verheiratet mit einer Friesin, Familienvater, fünf Kinder. „Die Linkspartei hat viele Jahre lang so getan, als ob der Bezirk ihr Eigentum ist.“

Heymann wohnt in einem der neuen Reihenhäuser der Wasserstadt an der Rummelsburger Bucht, er ist engagierter Sozialdemokrat. Er erzählt gern, wo überall Lichtenberg sich verändert und das alte PDS-Milieu sich verzogen hat. „In der Diaspora-Situation sind wir nicht mehr.“ Er berichtet von jungen Familien, die nach Karlshorst ziehen, von den edlen Loftwohnungen in der alten Schokoladenfabrik an der Konrad-Wolf-Straße in Hohenschönhausen. Und, nicht zuletzt, von der Viktoriastadt. Die ersten Ferienwohnungen gibt es dort schon, nahe der S-Bahn-Station am Nöldnerplatz. „Je länger Je lieber“ heißt ein neues Restaurant in der Kaskelstraße. Auf der Menükarte stehen Speisen wie ein Salat von französischen Berglinsen oder ein Birnen-Sanddornpunsch mit klütrigen Beeren. W-Lan und Wickeltisch sind inkludiert. Auf der Großbildleinwand wird nicht Fußball übertragen, sondern sonntags der „Tatort“oder der „Polizeiruf 110“. Ein paar Häuser weiter verkaufen die „Berliner Töchter“ Frühstücksbrettchen, Magneten und Designerkram. Es sieht hier inzwischen aus wie in Prenzlauer Berg. Nur ist eben auch das der Bundestagswahlkreis 86.

„Die Bevölkerung im Bezirk verändert sich stark“, hatte Lötzsch schon 2010 zugestanden, kurz nach ihrer Wahl zur Linken-Chefin. Ein Jahr später erlebte ihre Partei bei der Abgeordnetenhauswahl ein Desaster. Die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung analysierte, die Linke habe ihre Ost-Berliner Wahlkreishochburgen verloren und „die Bindung an eine jüngere Wählerschicht“ eingebüßt. SPD, CDU und Grüne bildeten in der Lichtenberger BVV eine Zählgemeinschaft und verjagten die langjährige linke Bezirksbürgermeisterin von ihrem Posten.

Die „unheimliche Präsenz“ von Lötzsch im Wahlkreis

Lötzsch wird schmallippig, wenn sie auf den jungen Herausforderer angesprochen wird. „Was heißt Kontrahent?“
Lötzsch wird schmallippig, wenn sie auf den jungen Herausforderer angesprochen wird. „Was heißt Kontrahent?“

© Kitty Kleist-Heinrich

Lötzsch weiß, dass die linke Stammwählerschaft in ihrem Bezirk flüchtig wird. Sie reagiert darauf, indem sie so agiert wie immer, um sich die Erststimmen zu sichern. Ihre Genossen wies sie kürzlich an, einen Kalender mit Firmenjubiläen, einhundertsten Geburtstagen, Wohngebiets- und Sportfesten zu erstellen. „Nicht vergessen: Oft geht Präsenz vor Inhalt“, sagte sie offen. Mal werden Kaffeebecher mit Linken-Logo für eine Verlosung gestiftet, mal kommt der US-Botschafter zum Vortrag in die „Kiezspinne“.

Vor ein paar Tagen hat Lötzsch eingeladen zum Mieterforum nach Alt-Hohenschönhausen, mitten ins Plattenbaurevier. Im ersten Stock des Kinderhauses haben sich 60 Bürger versammelt, nur eine Handvoll ist nicht im Rentenalter. In der vorletzten Reihe nimmt Lötzschs Mann Platz. Lötzsch hatte sich als Studentin in ihren Professor verliebt – im vergangenen Jahr gab sie wegen seiner altersbedingten Erkrankung den Parteivorsitz ab.

Lötzsch hat auch einen roten Schal um, sicher ein Zufall. Sie sagt freundliche Worte zum „Wohnen als Menschenrecht“. Einer im Saal argwöhnt, dass es wohl nicht mehr lange dauere, bis in Lichtenberg die Mieten so hoch seien wie in Grunewald. Lötzsch sagt: „Sie wissen ja alle, man braucht einen langen Atem. Das ist unsere gemeinsame Erfahrung.“

Erik Gührs weiß um die „unheimliche Präsenz“ von Lötzsch im Wahlkreis. Bei jedem Kiezfest komme sie vorbei: „Sie wirkt immer sehr gehetzt, sehr angestrengt, sehr genervt.“ Der SPD-Mann liefert den Gegenentwurf zur Titelinhaberin, auch mit Blick auf die Vergangenheit. Spricht man ihn an auf die DDR, antwortet er mit Worten wie „Totalüberwachung“ und „undemokratisches Regime“. Für seine Kampagne stellt sich Gührs spiegelverkehrt gedruckte Plakate vor: Die Dinge andersherum denken. Oder eine Postkartenaktion: „Wer ist dieser Gührs?“

Lötzsch wird schmallippig, wenn sie auf den jungen Herausforderer angesprochen wird. „Was heißt Kontrahent?“ Jede Partei stelle halt einen Kandidaten auf. Es müsse schon „sehr viel schieflaufen“, damit eine der Ost-Berliner Wahlkreishochburgen verlustig geht, meint auch Matthias Höhn. Er ist Bundeswahlkampfleiter der Linken; von Erik Gührs hat er angeblich noch nie etwas gehört. Dann erhebt Höhn den SPD-Kanzlerkandidaten zum linken Hoffnungsträger: „Welchen Grund hat ein Durchschnitts-Ossi, Steinbrück zu wählen?“

Selbst die Genossen von der SPD stellen sich diese politische Frage. „Die Bundespartei fremdelt mit Lichtenberg“, erzählt Kai-Uwe Heymann. Man könne hier die Linkspartei aus der Kurve schmeißen, meint er, doch das sei im Willy-Brandt- Haus „noch nicht so richtig als Chance begriffen“ worden. Sollte die neue Lichtenberger SPD einen lokalen Wahlkampf an Peer Steinbrück vorbei führen? „So ein Revolutionär ist Erik nicht“, sagt der Parteifreund in väterlicher Tonlage über Gührs. Aber vielleicht muss man das im sich wandelnden Lichtenberg gar nicht sein.

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