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Berlin: Kantorin träumt vom Mehr-Religionen-Haus

Avitall Gerstetter will in einem einstigen jüdischen Kinderheim eine Denkfabrik der Toleranz einrichten

Es ist eine der exklusivsten Adressen in Mitte, und doch schlummern die Gebäude in der Auguststraße 14 bis 16 seit zehn Jahren in einem Dornröschenschlaf. Die jüdische Kantorin Avitall Gerstetter und Freunde wollen die weitläufigen Gebäude wieder zum Leben erwecken. Wo bis in die 1930er Jahre jüdische Mädchen unterrichtet wurden und ein jüdisches Kinderheim untergebracht war, sollen in ein paar Jahren Studenten verschiedener Religionszugehörigkeit zusammenleben und -arbeiten. Eine internationale Kunstakademie, eine Art „Denkfabrik“ schwebt den Initiatoren des Projekts vor mit den Schwerpunkten Musik, Bildende Kunst und Journalistik. Ein professionelles Aufnahmestudio, in dem die Studenten CDs für den Musikmarkt produzieren, soll es in dem Gebäudekomplex ebenso geben wie Büroräume für die Journalisten.

Der interreligiöse Aspekt sei bei der „Uni auf Zeit“ ebenso wichtig wie die künstlerische Arbeit, sagt Samuel Urbanik, Manager und Freund von Gerstetter. Die jungen Leute sollen deshalb auch nicht nur zusammenarbeiten, sondern in den Gebäudekomplexen jeweils etwa zwei bis drei Monate in Wohngemeinschaften zusammenleben, Muslime mit Juden, Christen mit Buddhisten, und im alltäglichen Umgang Toleranz üben.

„Wir müssen ,jüdische Gemeinde‘, wir müssen ,Judentum‘ neu denken“, sagt Urbanik, „wir dürfen uns nicht nur auf Gedenkveranstaltungen zum Holocaust treffen, sondern müssen in die Zukunft schauen.“ Es gehe darum, „junge Menschen zu begeistern, ihre Einstellungen und ihr Engagement zu prägen“, sagt Avitall Gerstetter. „Sie sollen lernen, wie die anderen leben und was alle verbindet.“

Avitall Gerstetter ist in der Synagoge in der Oranienburger Straße als Kantorin angestellt, aber durch Konzertreisen weit über Berlin hinaus bekannt. Dass es ihnen mit der Idee ernst ist, Menschen unterschiedlicher Religionen zusammenzubringen, haben Avitall und Urbanik bereits mit dem „Avitalls Cup“ bewiesen, einem Fußballspiel, das jährlich stattfindet und bei dem mittlerweile zehn jüdische, christliche und muslimische Mannschaften gegeneinander antreten – das nächste Mal am 24. Juni. Vor kurzem wurde Gerstetter für die Idee mit einem Preis des „Bündnisses für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet, das die Bundesregierung ins Leben gerufen hat.

Die Backstein-Gebäude in der Auguststraße stammen zum Teil aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und zum Teil aus den 1920er Jahren. Sie umfassen eine Fläche von rund 4000 Quadratmetern. Das Areal grenzt nach hinten an das Grundstück der Synagoge in der Oranienburger Straße. Das ehemalige Kinderheim „Ahawah“ (Liebe) von 1861 wurde vor ein paar Jahren von der Jewish Claims Conference an die Jüdische Gemeinde Berlin rückübertragen, das fünfstöckige Schulhaus daneben, das 1927/28 im sachlichen Bauhausstil errichtet wurde, soll demnächst übertragen werden. Die Gebäude sind mehr oder weniger baufällig, manche dürfen aus Gründen der Sicherheit nicht mehr betreten werden. Die Sanierung werde mindestens sechs bis acht Millionen Euro kosten, haben Gutachten ergeben, die Urbanik und Gerstetter in Auftrag gegeben haben. Das Geld dafür soll aus EU-Mitteln und von privaten Sponsoren kommen. Es gebe Interessenten in Israel und den USA, sagt Urbanik. Weitere Sponsoren werden noch gesucht. Man könne ja Schritt für Schritt sanieren und erst einmal mit der Instandsetzung der früheren Schule beginnen. Dafür wären schätzungsweise 2,5 Millionen Euro nötig. Gerstetter und Urbanik würden gerne Anfang 2009 mit der Sanierung beginnen.

Die Jüdische Gemeinde überlegt seit Jahren, was sie mit dem Grundstück und den denkmalgeschützten Gebäuden anfangen soll. Doch alle bisherigen Pläne – etwa der, die jüdischen Schulen an diesem Ort zusammenzufassen – wurden verworfen. Einzelne Räume sind in den vergangenen Jahren immer mal wieder für Ausstellungen genutzt worden, vergangenes Jahr etwa im Rahmen der „Berlin-Biennale“.

„Ich halte die Idee von Gerstetter und Urbanik für sehr, sehr gut“, sagt Gideon Joffe, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Der Gemeindevorstand will in den kommenden Monaten einen Ideenwettbewerb für das Areal ausschreiben, Gerstetter und Urbanik sollten sich daran beteiligen, sagt Joffe. Zuschlag soll dann das Projekt bekommen, „das Berlin, den Berlin-Besuchern und der Jüdischen Gemeinde gut tut“. Der finanzielle Nutzen stehe dabei nicht im Vordergrund.

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