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Berlin: Karl Friedrich Faltenbacher (Geb. 1946)

Vielleicht entstand der Eindruck, er habe ein papierenes Leben geführt

Der Friedhof in der Moltkestraße in Lichterfelde-West am 13. November 2014: Karl Friedrich Faltenbacher wird beerdigt. Viele Menschen sind da, seine Frau und auch fünf ehemalige Geliebte. Doch hätten es ebenso 15 sein können. Die fehlenden zehn sind nicht aus Groll ferngeblieben. Sie leben in Moskau oder Frankreich. Aber sie wären gern gekommen. Denn Karl war begabt. Außerordentlich fähig zur Freundschaft.

Venedig vermutlich im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts: Ein Katholik, ein Jude, ein Lutheraner, ein Calvinist, ein Moslem, ein Religionskritiker und ein Anhänger des Aristoteles diskutieren die Frage, ob die menschliche Welt überhaupt noch einen Gott braucht, und wenn ja, welchen. Sieben Gelehrte, die im „Colloquium heptaplomeres“ ausführlich und kritisch die Weltreligionen vergleichen. Es ist kein durchweg friedliches Gespräch. Aber jeder der Anwesenden nimmt die Argumente der anderen auf, und am Ende einigen sie sich, dass ihre Gedankengebäude von grundsätzlicher Gleichwertigkeit sind. Eine Überzeugung, die Karl Friedrich Faltenbacher zutiefst mit den sieben teilte. Es war sein Text. 30 Jahre lang.

30 Jahre vertiefte er sich in das „Colloquium heptaplomeres“, promovierte zum Thema, veröffentlichte Aufsätze, sprach auf Tagungen, las immer wieder Satz für Satz. Und kam irgendwann während des Lesens darauf, dass dieser libertär gestimmte Dialog unmöglich von dem geschrieben worden sein konnte, von dem es alle annahmen. Nein, der französische Staatstheoretiker Jean Bodin war nicht der Autor, für Karl Friedrich Faltenbacher gab es keinen Zweifel. Für andere Forscher sehr wohl. Artikel und Gegenartikel wurden publiziert, Polemiken verfasst. Karl Friedrich Faltenbacher versenkte sich noch tiefer in den Text. Und vielleicht entstand für manchen der Eindruck, er habe ein papierenes Leben geführt. Als hätte der Staub der alten Bücher sich schon ein wenig auf ihn selbst gelegt. Die Frauen vom Friedhof würden energisch widersprechen.

In Karls Kinder- und Jugendjahren in einem oberpfälzischen Dorf hatte es kaum einen Hinweis auf ein Gelehrtendasein gegeben. Sein Lehrer ahnte wohl etwas und riet den Eltern: „Schicken Sie den Bub aufs Gymnasium“, aber die gaben nichts darauf. Etwas Handfestes sollte der Bub lernen. Karl selbst plagten zu dieser Zeit andere Sorgen. Die Kinder auf der Straße hatten ihm einen rätselhaften Satz nachgerufen: Dein Vater ist gar nicht dein Vater!

Er bewegte diesen Satz in seinem Kopf hin und her, viele Male, und entschloss sich dann, den großen dunklen Schrank in der Wohnstube zu öffnen. Da lag die Geburtsurkunde, und er las diesen fremden Namen. Ein amerikanischer Soldat also, der sich aus dem Staub gemacht hatte, um zurück zu Frau und Kind nach Oklahoma zu kommen. Ein Jack, wie er sich seiner Mutter vorgestellt hatte, der eigentlich Charles hieß. Diese Details aber erfuhr Karl erst, als er 30 war, als er es endlich gewagt hatte, seine Mutter auf die Sache anzusprechen.

Karl arbeitete in einer Kofferfabrik und in einem Kaolinwerk. Und irgendwann entsann er sich des Satzes seines Lehrer: „Schicken Sie den Bub aufs Gymnasium.“ Er holte das Abitur nach und begann zu studieren, mit 27, Romanistik an der FU. Für seinen Magister schlug er dem Professor eine Arbeit über Voltaire vor. Der zögerte, die Voltaireforschung fülle schon halbe Bibliotheken. Aber dann sagte er noch einen anderen Satz: „Vielleicht nahm Voltaire als Vorbild für seine Schrift über die Toleranz einen Text von Bodin.“ Karl hatte Boudin verstanden, Blutwurst. Das war der Beginn, so erzählte er es lachend in einem Interview, seiner 30-jährigen Lektüre des Bodin-Textes, der keiner ist. Heute folgen ihm darin die meisten.

Viel Geld brachte die Erforschung des „Colloquium heptaplomeres“ nicht, mal hatte er eine Stelle, mal nicht. Oft arbeitete er zu Hause, die Bücherborde in seinem Zimmer reichten bis unter die Decke. Vor den Büchern häufte er hunderte Kleinigkeiten an, einen Flakon mit Lavendelwasser seiner schlesischen Großmutter, Minerale, Ammoniten, Metallkästchen mit Muscheln. Und dann und wann ging er ins Zimmer nebenan zu Christiane. Er hatte sie auf einer Lesung entdeckt und auf der Stelle begriffen, dass er nicht mehr sein wollte ohne sie. „Sah er eine Blume“, erzählt Christiane, „fotografierte er sie. Er malte, zart knospende Zweige oder spöttische Selbstporträts. Buk schlesische Buchteln. Und nahm sich vor, seine Geschichte aufzuschreiben, den Titel hatte er schon: ‚Der glückliche Bastard.’ Er hing so am Leben.“

Und weil er so am Leben hing, bestimmte er den Tag seines Todes selbst. Karl war krank, litt an einer seltenen Stoffwechselstörung, hereditäre Amyloidose, Aussicht auf Heilung gab es nicht, einzig auf Qual.

Der Friedhof in Lichterfelde am 13. November 2014: Die Musik setzt ein. Unter Louis Armstrongs trauriger Trompete liegt ein schleppendes Schlagzeug, die Trompete steigert ihre Klage und klingt aus in einem langen Seufzen. Pause. Sekunden später beginnt das Schlagzeug zu wirbeln. Die Trompete swingt. Alles ist Energie. Alles ist schiere Lebensfreude.

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