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Berlin: Karl Hergesell (Geb. 1922)

Er schritt durch Höllenfeuer, er rettete in zwei Minuten alle Simulanten.

Karl Hergesell war ein friedliebender Mensch. Einer, der sich gerne mit Pflanzen, Fischen und dem Schienennetz der Deutschen Bahn beschäftigte.

Fragen nach den dunklen Seiten des Lebens, auch des eigenen, mied er. Wer ihn nach dem Zweiten Weltkrieg fragte, erhielt eine höfliche, aber knappe Antwort: Montage und Reparatur von Funkmessgeräten.

Dass er inhaftiert worden war, weil er den Marschbefehl eines Offiziers kritisch hinterfragt hatte, erzählte er erst kurz vor seinem Tod.

Auch, dass sie einmal einen älteren Bruder hatten, der im Alter von drei Jahren an einem Unfall starb, erfuhren seine Töchter erst sehr spät und nicht von ihm.

In seinen zahlreichen schlaflosen Nächten nahm er sich naturwissenschaftliche Bücher vor. Hier durfte er „warum“ fragen und auf eine einleuchtende Antwort hoffen. Die Gegenwelt zu Krieg und Tod.

Sein erster Impuls im Nachkriegs- deutschland war, die neue Ordnung bewachen zu helfen. Zwei Jahre machte der gelernte Elektriker die Polizeiausbildung. Hier aber war der Frieden ständigen Erschütterungen ausgesetzt, herbeigeführt von Leuten, die sich im Dauerkrieg um Pöstchen und Positionen befanden.

Auf seiner Suche nach einem Ort, an dem er friedlich und ordnungsstiftend arbeiten konnte, stieß Karl Hergesell schließlich zur Flughafenfeuerwehr Tempelhof. Das war es. Keiner kannte und liebte „den Hafen“ so wie Karl. Zahlreiche freie Stunden verbrachte er mit der Entdeckung von Geheimgängen, Nebenkellern und Versorgungsschächten, mit der Begehung des hafeneigenen Heiz- und Wasserwerks. Ein eigener Planet war das, besiedelt von Menschen, für die das Wort „Sicherheit“ einen ebenso wohltuenden Klang hatte wie für ihn.

Schließlich unterstand der Flughafen der US-Airforce, und die kannte keinen größeren Ehrgeiz, als ihre Leute auf die schlimmstmögliche Katastrophe vorzubereiten, am liebsten nachts. Da kam es vor, dass 5000 Liter Kraftstoff ausgekippt und angezündet wurden, wahre Höllenfeuer, die Karl, mit nichts als einem Handschlauch bewaffnet, zu durchschreiten lernte. Oder es landeten Flugzeuge mit einer Truppe Schauspieler an Bord, die das Drama „Schwer verletzt“ aufführten. Genau zwei Minuten hatten Karl und seine Leute dann, um am Schauplatz des Schreckens anzulangen, und zwei weitere Minuten, um alle Simulanten zu retten.

Weil Karl dank seines kühlen Kopfes auch die höchsten Flammen zu löschen wusste, weil er niemals unüberlegt oder selbstherrlich handelte, sondern immer darauf bedacht war, die äußere und die innere Ordnung zu wahren, wurde er bald zum Schichtführer, später zum Verwaltungschef ernannt.

Doch wusste er auch dies: kein Frieden ohne Freiheit. Die Freiheit, die er meinte, war ein anderes Wort für Hobbys. Die Idee mit den Karpfen im Löschteich zum Beispiel stammte von ihm. Irgendwie gelangten auch andere Fische hinein, und dann und wann bereiteten die Angler unter ihnen in der Betriebsküche ein maritimes Nachtmahl. Auch gab es auf der Wache einen Billardtisch, eine Dunkelkammer für die Hobby-Fotografen, Platz für die Modellbahner und Sportwettkämpfe.

Triebwerke brannten, Krankenflüge mussten begleitet werden, Toaster qualmten. Die große Katastrophe aber, die ist nie eingetreten.

Auch nach der Rente verlief Karls Leben ruhig und friedlich, ganz so, wie er es liebte. Seine Frau begleitete ihn geduldig zu den interessantesten Weichenstellungen der Deutschen Bahn, fügte sich auch in seinen Wunsch, das Leben so zweisam wie möglich zu gestalten. Die vier Töchter waren zu jungen Damen herangewachsen, die ordentliche Berufe ergriffen wie Polizistin oder Krankenschwester. Karl war seines Lebens zufrieden.

Dass die Zeitungen in den letzten Jahren von wachsender Arbeitslosigkeit sprachen, das gefiel ihm nicht. Wandelte sich da etwa die gute alte Ordnung der Bundesrepublik? Er wollte es nicht so genau wissen und bestellte alle Zeitungen ab.

„Der Hafen“ wurde geschlossen. Karl Hergesell erkrankte kurz darauf an den späten Folgen der Hepatitis, die er sich im Krieg zugezogen hatte. Anne Jelena Schulte

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