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Berlin: Karl Schumann (Geb. 1920)

Der Junge wird Friseur. Auch fast ein Künstlerberuf.

Als er Gertrud kennen lernte, 1944, stand ihm schon alles klar vor Augen: Dass er nach Kriegsende nach Berlin gehen, dort eine Familie gründen, ein Haus kaufen und als Friseur arbeiten würde, und zwar im eigenen Laden. Nur eine Frau suchte er noch und wählte, unter den vielen Arten, einen Heiratsantrag zu machen, diese: „Heiratest du mich oder nicht?“

63 Jahre später sitzt Tochter Monika Schumann an ihrem Wohnzimmertisch in Spandau, trinkt Tee und fragt sich, woher ihr Vater damals die Chuzpe nahm. Eigentlich war er nämlich ein zurückhaltender Mensch. Aber was heißt eigentlich? Vielleicht war es gerade das, was Gertrud an ihm gefallen hat: Wenn ein stiller Mann die Frage so stellt, dann weiß er, was er will, dann weiß man, was man kriegt, und dann ist es das Beste, ihn zu heiraten.

Außerdem sagte ihre Mutter: „Einen besseren findest du nicht“, und außerdem hatte Gertrud Lust auf Berlin, und außerdem sah Karl ziemlich gut aus, wie das Hochzeitsfoto bezeugt: weiße Handschuhe, den Zylinder leicht schief in der Stirn, Blick offen und zuversichtlich.

Die beiden können gut miteinander. Der Vater ist gut im Rechnen, dafür kann die Mutter schlachten, Hühner rupfen, kochen und backen. Der Vater hat zwei linke Hände, außer beim Haareschneiden. Die Mutter ist immer in Bewegung, der Vater mehr in sich.

Als jüngstes von sieben Geschwistern in Schadewitz in der Niederlausitz geboren, war er das Nesthäkchen. Verhätschelt aber darf man ihn sich nicht vorstellen, nur weil er auf dem Markt manchmal ein Extrastück Wurst vom Fleischer bekam. Zu Hause war der Hunger häufig zu Besuch. Gegen die Kälte halfen auf dem Ofen erhitzte Ziegel, die, in Leintücher gehüllt, aufs Strohbett kamen. Aufs Klo vors Haus sollte man nachts besser nicht, sonst waren die Füße wieder kalt.

Karl war schmächtiger als seine Brüder, und während Eltern heutzutage nach einer musischen Begabung ihres Kindes fahnden würden, entschied seine Mutter, als er 13 war: Der Junge wird Friseur. Auch fast ein Künstlerberuf. Aber mit wenig Muße: Sechs Tage die Woche, von acht bis acht, vier Jahre lang, lernte er im Nachbarort. In seinem Gesellenbrief von 1938 steht: Kenntnisse – sehr gut. Fertigkeiten – sehr gut. Betragen – sehr gut.

Im Krieg hatte er Glück: „Ich war nicht in der Verlegenheit, jemanden erschießen zu müssen.“ Als Regimentsfriseur und Handlanger des Regimentschefs blieb er hinter der Front.

Warum Karl Schumann Schalke-Fan wurde, konnte er selber nicht erklären. Es kam mehr so über ihn. Und zwar 1934 auf dem Plumsklo des Friseurladens: Dort las er in der Zeitung, dass Schalke Deutscher Meister geworden war. Ihm muss wohl diese Mischung aus Revierwürze, Schweiß und Härte gefallen haben, die Schalke damals umwehte.

Karl und Gertrud Schumann gehen nach Berlin, bekommen Monika. Als sie vier Monate ist, muss Karl für ein halbes Jahr fort, um in Duisburg den Meisterlehrgang zu absolvieren; denn ohne Meistertitel kein eigener Laden. 1960 kaufen sie ein Haus. Gertruds Brüder sollen beim Renovieren helfen, aber inzwischen gibt es die Mauer, und Gertrud muss alleine den ollen Ofen rausreißen, tapezieren, Wände begradigen. Karl hat ja zwei linke Hände, aber er schafft währenddessen im Laden – im eigenen Laden, wie er es sich vorgenommen hat. Zuerst in Charlottenburg, dann in Spandau.

Er hat Frau, Tochter, Laden und Haus. Bleibt nur noch ein Traum: einmal die Vereinigten Staaten sehen. Englisch spricht er nicht, aber er muss hin. Aus Santa Monica schreibt er der Tochter eine Karte. Was nicht der einzige Grund für sie ist, zu sagen: „Mein Vater war der weltbeste Vater. Er war auf seine Art ein Visionär.“

„Wie geht’s?“, fragte ihn seine Tochter jüngst. „Ich will ins Universum.“ – „Wie bitte?“ – „Du sprichst doch immer vom Universum. Dort will ich jetzt hin.“

Jetzt ist er dort. So, wie er sich das vorgenommen hatte.

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