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Berlin: Karla Mosser (Geb. 1940)

„Und wenn es dunkel wurde, schlich sich eine in das Zimmer der anderen“

Hatte sie jetzt den Verstand verloren? „Ein weißer was?“ Frau Mosser drehte den Kopf zu ihrer Tochter, die in der Küchentür stand. – „Ein Elefant.“ – „Elefant?“ – „Ein weißer Elefant. Das Karussell. Ein Gedicht von Rilke.“ Frau Mosser befühlte Karlas Stirn. Seit sie das Frühjahr über mit einer Lungenentzündung im Bett gelegen hatte, umhüllte sie diese sonderbare Art der Selbstvergessenheit. Sie las ununterbrochen, im Liegen, im Gehen, im Stehen. Sie guckte lange aus dem Fenster, obwohl es dahinter nichts zu sehen gab. Sie sagte neuerdings „Oui“ und „Merci“. Aber ein weißer Elefant, das ging dann doch zu weit.

Oder fehlte ihr der Vater viel mehr, als man das gedacht hatte? Bisher hatte Frau Mosser sich keine ernsthaften Sorgen gemacht, Karla war eben ein stilles Mädchen. Und nicht die Einzige ohne Vater. Herr Mosser hatte 1944 in die Ardennenhölle hineinrennen müssen und war nicht wieder aus ihr herausgekommen. Aber das verschwieg Frau Mosser ihrer Tochter, behalf sich mit dem Wort „gefallen“ und zeigte ihr eine Postkarte, die sie zwei Jahre zuvor von Herrn Mosser aus Frankreich bekommen hatte.

„Sie liebte das Gedicht von Rilke“, sagt Karlas alter Freund. „Sie erzählte von ihrem Spleen, französisch zu sprechen, davon, wie sie ,Das Karussell’ aufsagte und vom verständnislosen Gesicht ihrer Mutter. Seit sie erfahren hatte, dass ihr Vater in Frankreich gewesen war, träumte sie von Paris, vom Jardin du Luxembourg.“

Doch wie kommt ein Mädchen aus einer Schöneberger Zweizimmerwohnung, mit einer einsamen Mutter und deren paar Mark Witwenrente nach Paris? Gar nicht. Sie lernt Schreibmaschineschreiben und Stenografieren. Sie arbeitet in einem Anwaltsbüro. Sie bleibt bei der Mutter.

Und Männer? Sollte sie sich mit denen zu Hause in ihr Kinderzimmer setzen? Dafür freundete sie sich mit den Bibliotheksdamen an. Dienstags und freitags lagen immer schon Bücherstapel bereit, Neuerscheinungen und Altes und natürlich die Franzosen, Maupassant, Balzac, Flaubert.

Sie begann mit Gisela, einer der Bibliotheksdamen, auszugehen, anfangs nur für einen Kaffee am Nachmittag, bald auch auf ein Glas Wein am Abend. Gisela erzählte eine Begebenheit aus der Bibliothek. Aber plötzlich bemerkte Karla, dass sie der Geschichte gar nicht mehr folgte. Sie sah nur noch auf Giselas Lippen, auf ihr schönes Gesicht. Und hielt sich am Rand ihres Stuhles fest. Karlas Blick flackerte und Gisela fing den Blick auf. Konnte das sein? Konnte sie sich verliebt haben? In eine Frau?

Sie fuhren nach Paris. „Nach Paris?“, hatte Karlas Mutter gefragt. „Ganz allein?“ – „Mit der Gisela aus der Bibliothek“, hatte sie geantwortet, und die Mutter war beruhigt in ihre Kissen zurückgesunken.

„Karla erzählte mir“, sagt ihr alter Freund lachend, „dass sie vor der Abfahrt die Worte ‚chambres individuelles’ auf einen Zettel geschrieben hatte, Einzelzimmer, und dass Gisela sie dafür einen Feigling nannte. Aber die Reise haben sie trotzdem genossen, sind über die Champs-Élysées und durch das Marais gelaufen, haben Schnecken gegessen und die Mona Lisa angesehen. Und wenn es dunkel wurde, schlich sich eine der beiden in das Zimmer der anderen.“

Aber in den Jardin du Luxembourg gingen sie nicht. Karla wollte nicht. Ihre Kindheit war vorüber, ein für alle Mal.

Stattdessen fuhren sie zum Eiffelturm, stiegen im Gedränge der Menschen hinauf und wieder hinunter, kauften Postkarten, liefen ein Stück über den hellen Kies und standen plötzlich vor einem Karussell. Sie setzten sich auf eine Bank, neben eine Frau, die einem Mädchen, das auf einem bunten Holzpferd ritt, zuwinkte. Das Mädchen winkte zurück. Und da sagte Gisela: „Und dann und wann ein weißer Elefant.“

Karla nahm nicht Giselas Hand, dafür war es zu hell. Doch sie blieb bei ihr, auch in Berlin. Sie zogen nicht zueinander, dazu reichte Karlas Mut nicht. Aber manchmal, wenn sie allein waren, sagte sie zu ihr „meine Frau“.

Gisela starb im Herbst 2002. Karla im Winter 2013, an Lungenkrebs.

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