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Karsten Klaehn (1951-2015)

© privat

Karsten Klaehn (Geb. 1951): Ein großer, einsamer Junge

Ein Suchender und Sammler, der sich nicht festlegen mochte. Ein Barmann, der die Frauen betörte. Und keine ahnte, wie verloren dieser Strahlende war. Die Geschichte eines Berliners aus unserer Nachrufe-Serie

Freitagabends war die West-Berliner Studentenkneipe „Khan“ besonders gut besucht, denn freitagabends hatte Karsten Schicht. Groß, frisch geduscht, lässig gekleidet stand er hinter dem Tresen und so überschäumend wie das Bier waren seine Komplimente.

In Trauben standen sie an der Bar, die jungen Frauen, scheinbar Seminardiskussionen fortsetzend, in Wahrheit damit beschäftigt, seinen Blick zu suchen.

„Komm doch mal vorbei“, lud er die eine oder andere ein, „ich wohne gleich obendrüber.“ Und es kam die eine und auch die andere. Weil sie ihn küssen wollten, weil er lustig war und intelligent, und weil er so gut zu schmeicheln verstand.

Keine ahnte, wie verloren dieser Strahlende war.

Hatte Karsten eine neue Bekanntschaft geschlossen, dauerte es nicht lange bis er die Geschichte seiner Kindheit erzählte. Dann holte er Fotos hervor, die ihn grinsend auf den Ästen bunt belaubter Bäume zeigten. „Syracuse“, erläuterte er, „USA“. Sein Vater, ein Deutscher, hatte dort als Forstwissenschaftler gearbeitet, seit Karsten vier Jahre alt war.

Stark waren die Äste in den Wäldern von Syracuse, undenkbar, dass sie brechen könnten. Und doch kam er, der Bruch, brutal und völlig unverhofft: an Karstens 13. Geburtstag erlitt der Vater einen tödlichen Herzinfarkt. Das neue Fahrrad kam Karsten vor wie Hohn.

Die Mutter machte den Bruch komplett, als sie zurückzog zur eigenen Mutter nach Hannoversch Münden. Karsten, ein Kind noch, musste der jüngeren Schwester den Vater ersetzen und der Mutter den Gefährten. Halt musste er geben, den er selbst entbehrte. In der neuen Schule rügte man ihn für seine Amerikanismen und seine losen Manieren.

Karstens Zuhörerinnen betrachteten den großen Mann, der gerne Cowboystiefel trug, und verstanden, was er ihnen sagen wollte: Ich bin einsam. Was zuverlässig mütterliche Instinkte weckte. Dem musste doch zu helfen sein! Alles schien er mitzubringen für ein erfülltes Leben. Nicht nur, dass er gut aussah und sich überall Sympathien einhandelte mit seiner großzügigen Art. Auch hatte er die Schule mit guten Noten abgeschlossen und arbeitete neben seinem Job im „Khan“ als Tutor am „John F. Kennedy Institut“, wo er Amerikanistik studierte.

Doch die Rolle des Barmanns gefiel ihm besser als die des angehenden Studienrats: hier war er mittendrin und doch getrennt durch einen Tresen, der ihm Bühne und Schutz zugleich war.

Und Schutz brauchte er. Ungefiltert fiel die Welt in seinen Kopf, in seine Wohnung. Zahllose Zeitschriften-Abos flogen herum, darunter die „Zeit“, Tierfachzeitschriften und Feinschmecker-Magazine. Auf den Regalen türmten sich Bücher, Fotoapparate, Steine, Fotos und sonstige Schätze, auf den Schränken standen zwei unbenutzte „Peugeot“-Fahrräder, auf den Tischen lagen elektronische Geräte, die er nicht zu bedienen wusste, seine beiden riesigen Kühlschränke waren so voll, als gelte es, ein Dorf zu ernähren, unter den Decken hing Farnkraut, auf dem Balkon wucherten Wein und Kartoffeln, in jedem Zimmer lief ein Fernseher.

Keine wollte bei ihm bleiben

Wie in einer Bärenhöhle durften die Geliebten sich fühlen bei ihm, ein warmer Ort, an dem alles im Übermaß vorhanden war, körperliche Nahrung wie geistige. Die abwegigsten Dinge konnten sie ihn fragen: Wie lang ist der Nairobi-Fluss? Wie steht es um die Kamelzucht in Marokko? Ganz sicher hatte Karsten mal eine Dokumentation gesehen, einen Artikel gelesen, eine Geschichte gehört oder eine Fantasie dazu, nie brauchte er lange nach einer passenden Antwort suchen.

Und doch wollte keine bei ihm bleiben.

Früher oder später ahnte auch die Gutmütigste, dass Karsten immer nur sich selber meinte. Ein Narziss, der sich fortreißen ließ von immer neuen Verlockungen, der ständig neue Spiegel suchte, unfähig sich zu verabreden, Verpflichtungen einzugehen.

Dabei war er der Treueste von allen. Einmal eingespeist in sein Adressbuch, gab es Jahr für Jahr in Alu-Folie gewickelte Geburtstagsgeschenke, Kochbücher oder CDs, die andere ihm brennen mussten. Meinte er es besonders gut, schenkte er auch Ausgefalleneres, wie jene junge Bauchtänzerin zum Fünfzigsten einer Ex-Freundin.

Ihr Ärger war so groß wie die Freude der männlichen Gäste. Karsten verstand die Kränkung nicht: er hatte ihr doch nur eine unvergessliche Freude bereiten wollen. Na gut, ein klein wenig auch sich selber, aber was war denn schon dabei?

Nichts fiel ihm schwerer als die Beziehungen zu anderen Menschen und nichts war ihm wichtiger.

Einmal im Jahr lud er an die 50 Bekannte zum großen Truthahn-Essen ein. Säcke voll Rosenkohl trug er aus der Metro, bestellte Ex-Freundinnen zum Gemüseputzen in die Küche, schleppte Tische und Stühle aus dem „Khan“ herbei, ließ die Öfen diverser Nachbarn vorheizen.

Am Eingang legte er ein Gästebuch aus, so, als verlange er einen schriftlichen Beweis, dass es sie wirklich gab, die Freunde, und dass sie wirklich gekommen waren, zu ihm.

Wie ein Rockstar ließ er die versammelte Meute dann auf seinen Auftritt warten, sich an ihrem immer größer werdenden Appetit weidend. Mit Erfolg: groß waren das Gejohle und Geklatsche der längst Betrunkenen, wenn er endlich, eine dampfende Platte auf den Armen, im Türrahmen erschien. Dann ging Karsten von Gast zu Gast, lauthals die Vorzüge eines jeden Einzelnen preisend. Anschließend wurde gefeiert und geschmaust, Freundschaften wurden geschlossen und vertieft, nur einer fehlte am Tisch: Karsten selbst.

Der saß Whiskey trinkend in der Küche, sich mit dem Abwasch entschuldigend. Am Ende solcher Abende, wenn bis auf ein, zwei Freundinnen alle gegangen waren, kam es vor, dass er weinte.

Wieder hatte er sich bis zur Erschöpfung verausgabt, und wieder war es ihm nicht gelungen, einer von ihnen zu sein.

34 Jahre alt war er, als er, mit viel weiblicher Unterstützung, sein zweites Staatsexamen ablegte. Lehrer wurde er deshalb noch lange nicht.

Er arbeitete weiter im „Khan“, fuhr außerdem „Zitty“ und „Tip“ aus und betätigte sich als Fotograf. Die Kamera hatte dieselbe Funktion wie der Tresen im „Khan“: Mit ihr holte er die Welt ganz nah heran und hielt sie auf Abstand. Er machte Ausstellungen, sehnte sich nach Anerkennung als Künstler. Doch hielt er es mit den Fotos wie mit allem anderen: Hauptsache viel. Er produzierte in rauen Mengen, die Technik aber blieb laienhaft und die Motive wirkten wahllos.

Anfang der Neunziger wurde das „Khan“ verkauft und damit der Boden unter Karstens Füßen. Er trank noch mehr als sonst, blieb im Bett, ging nicht mehr ans Telefon und auch nicht an die Tür.

Er ging vor sechs am Morgen nicht schlafen und begann den Tag gegen Mittag mit Buttermilch und Limonade.

Und riss sich dann doch zusammen, erhielt eine Stelle als Lehrer an einer Berufsschule und wurde bald verbeamtet.

Ein seltenes Glück, dem Karsten gerne gerecht werden wollte. Nach einigen Rügen stellte er das Trinken vor Unterrichtsbeginn ein, verschaffte sich Respekt bei den Schülern. Raue Jungs waren das oft, Jungs, die einen Vater vermissten, Jungs, die er verstand. Auch die Kollegen hatten Achtung, die schwierigsten Klassen vertraute man ihm an. Doch so sehr er sich mühte, es gelang ihm nicht, die Arbeit zu lieben. Die Routine und das frühe Aufstehen setzten ihm zu, er wurde krank: Diabetes, Herzflimmern.

Eine Jugendliebe aus seiner Zeit als Austauschstudent in Amerika tauchte auf. Hingebungsvoll kümmerte sie sich um ihn, fuhr nur zum Geldverdienen dann und wann in die Staaten – und kam dann irgendwann doch nicht mehr zurück. Karsten wurde krankgeschrieben, konnte ab 2012 gar nicht mehr arbeiten.

Wieder begann er die Tage gegen Mittag mit Buttermilch und Limonade.

Ein großer, einsamer Junge. Der immer mehr ausgab, als er besaß, dem schließlich eine Räumungsklage ins Haus flog, der nichts zurückgelegt hatte fürs Alter.

Es war die Beerdigung seiner Mutter, und ausgerechnet Karsten fehlte. Karsten, der seine Rolle als Sohn und Gefährte nie abgelegt und sich ein Leben lang gekümmert hatte. Man fand ihn in tiefem Koma, all seine lebenserhaltenden Medikamente hatte er in den Tagen zuvor abgesetzt.

Seine Freunde auf der griechischen Insel Naxos organisierten ihm eine letzte Foto-Ausstellung, Trauerbekundungen kamen aus der ganzen Welt. Der große Kreis seiner Ex-Freundinnen fand sich zusammen. Es wurde wohl selten ein Einsamer von so vielen Menschen betrauert.

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