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Berlin: Kasseler und Chaoten

Die Potsdamer Straße ist die berlinischste der Stadt. Finden zwei, die ein Buch über sie geschrieben haben

Bezirksbürgermeister Joachim Zeller (CDU) hat sich belehren lassen. „Als ich von den Autoren hörte, die Potsdamer Straße sei die berlinischste Straße Berlins nach Unter den Linden“, sagt er, „da hab ich gedacht: Übernehmt ihr euch da nicht? Aber sie haben ja recht.“

Die Autoren – das sind Sybille Nägele und Joy Markert. Sie haben in fast zweijähriger Arbeit ein dickes Buch über diese berlinische Straße geschrieben, eine Mischung aus Stadtführer, Geschichtsschreibung, Reportageband, üppig ausstaffiert mit Schwarz-Weiß-Fotos, Fußnoten, Literaturnachweis. Gestern wurde das Buch, das in der nächsten Woche in den Handel kommt, im Haus am Kleistpark vorgestellt; Zeller und seine für die Potsdamer Straße ebenfalls zuständige Schöneberger Amtskollegin Elisabeth Ziemer (Grüne) waren dabei.

Der Reiz der Straße liegt für die Autoren vor allem darin, dass sich in ihrer Geschichte der letzten 200 Jahre die Gesamtberliner Geschichte dieser Zeit spiegelt. Ihre Geschichte begann mit einem botanischen Garten an der Straße nach Potsdam, dem heutigen Kleistpark. Angelegt als Küchengarten unter dem Großen Kurfürsten, entwickelte er sich zum Lustgarten mit Treibhäusern und Orangerien, wurde dann im 19. Jahrhundert zu einer wissenschaftlichen Einrichtung; Adalbert von Chamisso arbeitete dort bis zu seinem Tod 1838 als Kustos.

Berlin und Schöneberg wuchsen in dieser Zeit aufeinander zu, es entstanden an der Straße markante Gebäude wie das Elisabeth-Krankenhaus und die Matthäuskirche, und langsam schloss sich die Bebauung zunächst im nördlichen Teil der Straße. Das Bürgertum emanzipierte sich und traf sich in literarischen Salons. Einer der wichtigsten lag in der Potsdamer Straße 27a (68 nach heutiger Nummerierung) und wurde geführt von Ernst Dohm, dem Chefredakteur des Satireblatts „Kladderadatsch“ und seiner Frau Hedwig, einer profilierten Frauenrechtlerin. Theodor Fontane, ein häufiger Gast, wohnte ein paar Jahre in der Potsdamer Straße. Handel und Gewerbe blühten, und ab 1879 verband eine Pferdebahn die Potsdamer Brücke mit der Schöneberger Hauptstraße. Die Firma Singer produzierte Nähmaschinen, Fachbuchhandlungen wie „Struppe&eWinckler“ eröffneten, und der Fleischermeister Cassel räucherte gepökeltes Schweinefleisch. Es wurde weltberühmt. Als „Kasseler“. Spätestens mit dem Bau der Hochbahn an der Bülowstraße war die Potsdamer Straße das Zentrum des alten westlichen Berlin – 1910 kam der Sportpalast als bedeutender, freilich wirtschaftlich wenig erfolgreicher Veranstaltungsort hinzu. Die Potsdamer war zum Treffpunkt von Intelligenz, Kultur, Kunst und Wirtschaft geworden; ein bedeutender Markstein war der Beginn des Radiosendebetriebs im Vox-Haus 1923.

In den 20er Jahren aber zog auch das Zentrum des Westens weiter in Richtung Kurfürstendamm, und in der Potsdamer Straße machten sich Rechte und Rechtsextreme breit. Die SA wurde gegründet, und im November 1926 übernahm Joseph Goebbels im Haus Nr. 35 (heute 90) die Leitung des NSDAP-Gaus Berlin-Brandenburg. Zahlreiche NS-Organisationen siedelten sich in der Nähe an, und bald war auch der Sportpalast in Nazi-Hand. Viele Menschen, die der Potsdamer Straße ihre Bedeutung gegeben hatten, wurden enteignet, emigrierten oder wurden deportiert – die Gegend hat sich davon nie wieder richtig erholt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings blühten vor allem Schwarzmarkt und Prostitution, erst aus Not, dann zunehmend als regelrechtes Gewerbe. Es eröffneten zwielichtige Nachtclubs, Stundenhotels und Spielcasinos, Juweliere, Pelzhändler und andere bürgerliche Gewerbe profitierten. Mit dem Bau der Mauer 1961 wurde die Straße vom Berliner Zentrum abgeschnitten, aber das Rotlichtmilieu blieb bis in die 80er Jahre, die Drogenszene breitete sich aus. Mieter zogen in neue Viertel anderswo in Berlin, und in den leer stehenden Häusern etablierten sich Hausbesetzer. Einer von ihnen, Klaus-Jürgen Rattay, wurde 1981 nach einer Räumung von einem Bus überrollt und getötet.

Parallel entwickelte sich die Straße zum Zentrum der neuen Frauenbewegung mit Verlagen, Cafés wie dem „Begine“ und dem Prostituiertenprojekt „Hydra“. „Pelze multimedia“, ein ehemaliges Pelzgeschäft, wurde zum Publikumsmagneten. Davon ist heute nicht mehr viel zu sehen. Nach der Wende wurde die Straße wieder zu einer wichtigen Verkehrsader, Gemüsehändler und Supermärkte veränderten das Bild. Es gab eine Zeit neuer Möbelgeschäfte, die Gastronomie blühte ein wenig auf, gegenwärtig geht der Trend zu Wettbüros und Nagelstudios. Was folgt? „Ich habe gehört, dass es im alten Wegert-Haus jetzt Table Dance geben soll“, sagt Bürgermeisterin Ziemer, „da verdichtet sich wieder was.“

Nägele/Markert: Die Potsdamer Straße – Geschichten, Mythen, Metamorphosen. Metropol, Berlin, 408 Seiten, 19 Euro.

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