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Berlin: Katastrophe? Welche Katastrophe?

Die DDR reagierte mit West-Beschimpfungen auf den GAU im Bruderstaat – und Honecker empfahl, Salat zu waschen

Der DDR-Bürger hatte sich daran gewöhnt, dass ihm in seinen Zeitungen, in Radio und Fernsehen, immer nur so viel zugemutet wurde, wie seinem Seelenheil zuträglich war. Nach dem Störfall in Tschernobyl verfuhr man in der offiziellen Tagespolitik nach dem Motto der drei weisen Affen: nichs hören, nichts sehen und am liebsten gar nicht darüber reden. Die Freundschaft zur Sowjetunion war zwar immer nah und Herzenssache sowieso, aber Tschernobyl war ziemlich weit weg. „Was dort passiert, ist ein bedauerlicher Unfall, von dem wir uns aber nicht verrückt machen lassen sollten. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, mag der Klassenfeind noch so sehr kreischen, wir halten unseren Kurs.“ So ähnlich haben es die Medienwächter den Chefredakteuren beim Befehlsempfang gesagt, vielleicht haben sie die ganze Sache am Anfang auch wirklich unterschätzt.

Zunächst erschien im „Neuen Deutschland“ am 29. April eine unauffällige Zehn-Zeilen-Meldung der Nachrichtenagentur TASS auf Seite fünf: „Havarie in ukrainischem Kernkraftwerk“. Am nächsten Tag hatte die Sache schon die Seite eins erreicht, und da man gewohnt war, zwischen den Zeilen zu lesen, war sicher: Dies ist kein kleiner Betriebsunfall. In der Verlautbarung des UdSSR-Ministerrates war von zwei Toten die Rede, von „dringenden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie“ und vom „Entweichen einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“. Die Kraftwerkssiedlung und drei Ortschaften seien evakuiert worden. Starker Tobak. Daneben meldet sich das DDR-Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz zu Wort. Als „nicht relevant“ bezeichnete ein Sprecher die Frage einer Überprüfung der Sicherheit in den Kernkraftwerken der DDR (Rheinsberg und Greifswald), denn „wir haben ganz andere Reaktoren“, und außerdem gebe es in der DDR ständig Messungen zur Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt. „Nach der TASS-Meldung über eine Havarie in Tschernobyl/Ukraine wurden keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheitsgefährdung hervorrufen können“.

Dann ist ja alles in Butter. Der 30. April war ein strahlend schöner Mittwoch. 20 000 standen unter dem ungetrübten blauen Himmelszelt in Köpenick, wo der 1. FC Union sein Halbfinal-Pokalspiel gegen Dynamo Dresden mit 1:2 verlor. Und am nächsten Tag flanierten die Ost-Berliner wie stets am 1. Mai durch die Karl-Marx-Allee.

Am folgenden Wochenende kletterten die Temperaturen sogar auf 25 Grad, die Leute strömten in die Kleingärten, und wenn sie die Zeitung aufschlugen, lasen sie, dass „die Havarie in Tschernobyl von Medien und gewissen politischen Kreisen in westlichen Ländern zum Anlass genommen wird, um mit Halbwahrheiten und Spekulationen die Bevölkerung in Unruhe zu versetzen. Alles spricht dafür, daß es sich um gezielte Panikmache handelt, die die Weltöffentlichkeit von den Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion ablenken soll“.

Mögliche Gesundheitsrisiken waren offiziell kein Thema. Wer nicht gerade im Tal der Ahnungslosen wohnte, wusste jedoch durchs Westfernsehen bestens über die Lage Bescheid. Und war verunsichert. Kann ich mein Kind in den Buddelkasten schicken? Werden wir baden gehen? Milch trinken? Salat essen? Im Regen spazieren? Uns war schon etwas komisch zumute, denn die Mauer teilte zwar das Land, aber nicht den Himmel, über den an jenem 30. April die Atomwolke gezogen war.

Die Westverwandtschaft war noch im Herbst darüber sauer, dass wir es wagten, in die Pilze zu gehen. Dabei kam noch eine große Versuchung über uns: In den Gemüseläden tauchten mit einem Male Raritäten auf, die sie in West-Berlin nicht abnehmen wollten, Spargel. Pilze. Weintrauben. Erdbeeren, Tomaten. Erich Honecker hatte einen guten Tip: „Gemüse und Salat müssen gut gewaschen werden. Wir waren zu Hause sechs Kinder, und unsere Mutter hat immer den Salat gewaschen“. Kein Wunder, dass sehr bald die ersten Witze kursierten. „Demnächst soll es Strontium regnen – so sind unsere sowjetischen Freunde: jetzt schicken sie uns unser Uran wieder zurück“.

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