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Keimzeit: „Unsere Realität ist deutsch, nicht ostdeutsch“

Norbert Leisegang, Kopf der Gruppe Keimzeit, über den Fluch des Etiketts „Ostband“, seine Hassliebe zu Berlin und seine Liebe zu den Frauen

Vor 20 Jahren gründeten vier Geschwister aus Lütte bei Potsdam die Band „Keimzeit“. Kopf der Gruppe ist bis heute Sänger und Gitarrist Norbert Leisegang (41). Er schreibt die meisten der melancholischen, poetischen Songs. Ihr größter Hit war „Kling Klang“. Am 23. September erscheint das achte Album „1000 Leute wie ich“. Heute Abend spielt Keimzeit auf der Museumsinsel.

In Ostdeutschland sind Sie Kult, im Westen immer noch ein Geheimtipp. Ist Keimzeit die letzte echte Ostband?

Das ist Bullshit. Wir touren durch ganz Deutschland, ich fühle mich in Hamburg so zu Hause wie in Rostock. Ich lebe teils in Potsdam, teils in Berlin. Unsere Realität ist deutsch, nicht reduzierbar auf ostdeutsch.

Trotzdem hängt Keimzeit auch zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer das Attribut „Ostband“ an. Wieso?

In der Öffentlichkeit gibt es immer noch diese Kategorisierung, bis hin zu „Ostbrote“ und „Westbrote“. Wer das immer noch braucht, der soll es machen. Für mich ist klar: Ich lebe überwiegend im Ostteil und spiegele viele Dinge wider, die hier passieren. Das würde ich aber nicht als ostdeutsch bezeichnen, sondern als brandenburgisch.

90 Prozent Ihrer Alben werden in den neuen Bundesländern verkauft. . .

Manche Händler in Aachen oder Stuttgart wissen bis heute gar nicht, dass es uns gibt. Und wenn sie es wissen, haben sie das Problem, dass das Publikum uns nicht kennt und sich die Platten nicht verkaufen. Die machen zu: Eine Band aus Ostdeutschland? Wir haben doch unseren Grönemeyer.

Hören Westdeutsche Musik anders?

Nein. Dieses Verhalten, nicht offen für neue Sachen zu sein, bemerke ich auch in Ostdeutschland. Ich mag es genauso wenig, wenn wir in Stollberg im Harz spielen, und die Leute dort nur ostdeutsche Pop- und Rockmusik hören. Die fühlen sich geborgen, wenn sie „Am Fenster“ von City hören und dann „Kling Klang“ von Keimzeit. Das nervt mich, wenn ich sehe, wie eng der Horizont da auf beiden Seiten noch immer ist.

Mit welchen Erwartungen gehen Sie mit dem neuen Album auf Tour?

Es ist immer wie eine Geburt, wenn wir ein Album aufgenommen haben. Damit beginnt eine neue Epoche für uns. Wir haben versucht, die Musik noch persönlicher zu machen, eins zu eins zu unseren Gefühlen.

So wie in der aktuellen Single „Leute wie ich“?

Ja. Ich überlege oft: Wo stehen wir in der deutschen Popmusik? Manchmal wünschte ich mir, wir wären große Stars und hätten einen Hit, der allen in Deutschland zeigt, wer Keimzeit ist. Aber dann ist mir wieder das Agieren aus der zweiten Reihe auch nicht unlieb. Davon erzählt der Song.

Stichwort Berlin: Sie sagten, Sie leben zum Teil hier, haben der Stadt auch einen Song gewidmet. Wie ist Ihr Verhältnis zu Berlin?

Es ist eine Hassliebe. Über Jahre habe ich die Stadt gepriesen und war euphorisiert. Später habe ich dann gemerkt, dass sie mich kaputtmacht und zerfrisst. Anfang der 90er habe ich mir eine Wohnung in Wedding gekauft. Erst danach habe ich gemerkt, mit was man da konfrontiert ist. Von der Armut und Einfachheit bis zur Kriminalität, aber auch Multinationalität. In meinem Haus leben Serben, Kroaten, Türken, Deutsche zusammen, und jeder versucht, seine nationale Identität zu leben. Das klappt mal gut, mal kracht’s.

Wann hassen Sie Berlin besonders?

Immer wenn ich mich selbst nicht stabil fühle, kriege ich diesen Hass. Zum Beispiel darauf, dass du immer in Hundekot trittst. Dann überfährt dich ein Fahrradfahrer fast, ein anderer knallt dir Sprüche vor den Kopf. Außerdem stinkt es manchmal unerträglich.

Und Potsdam ist dann der Rückzugsort?

Ja, mit Einschränkungen. Potsdam alleine wäre mir zu überschaubar und zu konservativ. Aber es ist wunderschön, ein paar Minuten zu laufen und im Park Sanssouci zu sein oder im Wildpark. Das ist mein Refugium.

Ein anderes Thema in Ihren Songs sind Ihre Beziehungen zu Frauen. wie viel von Ihnen selbst steckt in diesen Liedern?

Ich lebe seit zwölf Jahren mit meiner Freundin zusammen. Viele Songs spiegeln meine persönlichen Erfahrungen wider. Jeder weiß ja, dass Liebe, Beziehung, Leidenschaft und Hass ein ganz weites Thema ist. Ich kann das nicht auf eine Frau alleine projizieren. Ich verliebe mich schnell und häufig. Ich habe genug Material, um für die nächsten 50 Jahre noch Liebeslieder zu schreiben.

Keimzeit spielen am heutigen Freitag um 19 Uhr 30 Open-Air auf der Museumsinsel in Mitte. Einlass ab 18 Uhr 30, Tickets 14 Euro.

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