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Berlin: Kein Kummer im Langen Jammer

Das Märkische Viertel wird heute 40 Jahre alt. Die meisten Mieter leben gern in der Siedlung

Euphorie auf Berlinisch? „Da kann man nicht meckern.“ Zu mehr lässt sich der Durchschnitts-Berliner nur schwer hinreißen. Es sei denn, er lebt im Märkischen Viertel. 85 Prozent von ihnen, so sagt es zumindest eine Mieterbefragung der Wohnungsbaugesellschaft Gesobau, beurteilen ihre Situation mit „gut“ und „sehr gut“. In Zeiten von „Das können wir uns nicht mehr leisten“ und „Hier wird noch gekürzt“ ein sensationeller Wert. Noch dazu, da die Häuser, in denen die Mieter wohnen, in der Vergangenheit berühmt wurden, weil man sie „Langer Jammer“ oder „Wohnmaschinen“ nannte.

Nun ist der Durchschnitts-Bewohner des Märkischen Viertels weder besonders anspruchslos noch hat er ein Wahrnehmungsproblem. Aber die Gründe, warum sich die Menschen in den Betontürmen am Wilhelmsruher Damm oder Senftenberger Ring so wohl fühlen, kann auch die Umfrage der Gesobau nicht schlüssig erklären. Heute, am 1. August, wird die Großsiedlung im Norden Reinickendorfs 40 Jahre alt – und es gibt noch Mieter, die seit dem ersten Tag hier wohnen. Ihre genaue Zahl ist in den Statistiken der Gesobau zwar verloren gegangen, aber eins steht fest: Gut 3000 der rund 40000 Bewohner leben hier schon seit mehr als 30 Jahren.

Was macht die Menschen glücklich? Beispiel Nummer eins: die Nachbarn. Man versteht sich. Im Fahrstuhl wird noch „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ gesagt, obwohl die Chance, den Menschen aus der Kabine in kürzester Zeit wiederzutreffen, bei diesen riesigen Häusern relativ gering ist. Dafür trifft man sich beim Country-Fest im Fontane–Haus, dem kulturellen Zentrum. Oder zum Eisschlecken auf dem kleinen, von Ladenzeilen des Einkaufzentrums umstandenen Brunnenplatz. Sehr beliebt ist der Platz, auch wenn der Brunnen aus dem Jahr 1887, der bis 1954 vor der Musikhochschule an der Hardenbergstraße plätscherte, in der betonierten Umgebung wie ein Fremdkörper wirkt.

Beispiel Nummer zwei: der Grundriss ihrer Wohnung. Im Märkischen Viertel gibt es 16000 Wohnungen. Aber die Chance, dass die Mieter zu Besuch beim Nachbarn ein paar Straßen weiter gar nicht fragen müssen, wo das Badezimmer oder die Küche ist, sondern blindlings draufzusteuern, dürfte nicht besonders hoch sein. Anders als in anderen Großsiedlungen gibt es hier nämlich 1000 unterschiedliche Grundrisse. Das ergibt trotz der Betonburgen-Architektur einen Hauch von Individualität.

Beispiel Nummer drei: die Ruhe. Wer das Glück hat, in einem der Hochhäuser weiter oben zu wohnen, hat nicht nur einen schönen Blick vom Balkon, sondern auch ruhige Innenhöfe ohne Verkehr und viele, viele Bäume. Platanen sind es vor allem, die im Märkischen Viertel die einzigartige Architektur ergänzen – dahingehend, dass man sommers von oben auf tausende grüner Wipfel schaut.

Deshalb sind sie treu, die Menschen im Märkischen Viertel. Nur drei Prozent der Wohnungen stehen leer. An einen „Rückbau“ der zu gut einem Drittel ebenfalls aus Fertigbeton-Platten bestehenden Häuser denkt hier niemand. Aber die Gesobau lässt Studenten der TU und der Kunstakademie Stuttgart nachdenken, was man mit den Häusern anstellen kann. Etwa mit den Dächern: Auf den niedrigeren Häusern können sie sich Sportanlagen vorstellen, und weiter oben private Gärten, ein Solarium oder sogar eine Minigolfanlage. An Ideen mangelt es nicht im Viertel. Und auch nicht am Optimismus für die Zukunft.

Da kann man nicht meckern.

Die Ausstellung mit den Konzepten der Planer zur heutigen Situation sowie den Ideen der Architekturstudenten für das Märkische Viertel ist noch bis 5. September in der Galerie Aedes West am Savignyplatz zu sehen. Die Ausstellung ist täglich von 10 bis 20 Uhr offen, der Eintritt ist frei.

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