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Berlin: Kein netter Zug: Die Ost-S-Bahn im Westen

Das Foto von der DDR-Fahne gleich neben dem Intershop im Bahnhof Friedrichstraße symbolisiert vielleicht am besten, wie skurril die Welt der Berliner S-Bahn zu Zeiten der Mauer war – jener Mikrokosmos aus bei einem Ostbetrieb angestellten Westfahrern und im Westen agierenden Ostbehörden. Mit den Fotos kommt die Erinnerung wieder: Bahnen mit Start und Ziel im Westen, die im Schritttempo durchs Halbdunkel zugemauerter Ost-Stationen rollten.

Das Foto von der DDR-Fahne gleich neben dem Intershop im Bahnhof Friedrichstraße symbolisiert vielleicht am besten, wie skurril die Welt der Berliner S-Bahn zu Zeiten der Mauer war – jener Mikrokosmos aus bei einem Ostbetrieb angestellten Westfahrern und im Westen agierenden Ostbehörden. Mit den Fotos kommt die Erinnerung wieder: Bahnen mit Start und Ziel im Westen, die im Schritttempo durchs Halbdunkel zugemauerter Ost-Stationen rollten. Wagen, die mit dem Komfort der 30er-Jahre- Holzklasse vom Zoo zum Wannsee rumpelten, während es im Osten längst modernere Züge und gepolsterte Sitze gab.

„Kalter Krieg auf Schienen“ heißt die Ausstellung, die das zum Bahnkundenverband gehörende S-Bahn-Museum jetzt an der Jannowitzbrücke zeigt. Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat ebenso mitgeholfen wie die Stasi- Unterlagen-Behörde, sodass Erstaunliches dokumentiert wird. Beispielsweise der Plan der Stasi vom November 1979 zur großflächigen Stilllegung des West-Netzes. Weil die meisten West-Berliner das von der DDR-Reichsbahn betriebene Unternehmen boykottierten, sollte das Netz auf eine Reststrecke von der Friedrichstraße zum Zoo geschrumpft werden. Flagge zeigen oder Geld sparen, hieß die Frage, die sich angesichts von 14 Millionen eingenommenen gegenüber 48 Millionen ausgegebenen D-Mark (plus 56 Millionen DDR- Mark) stellte. Die DDR versuchte beides – und scheiterte spätestens in jenem Herbst 1980, als sie den West- Reichsbahnern Lohnerhöhungen gönnte, die sich real als Einbußen entpuppten. Tausende streikten, Hunderte wurden gefeuert, manche gingen freiwillig.

Mit der Übernahme der West-S-Bahn durch die BVG endete die Geschichte, an die in der Ausstellung mit (sehr) viel Text erinnert wird. Aber es lohnt sich, sie zu erzählen in all ihrer Absurdität. So listet ein Dokument der DDR-Transportpolizei die „ideologische Diversion“ des Wachpersonals auf den Geisterbahnhöfen (Ost) durch Passagiere (West) im Jahr 1972 auf: 523 Mal wurden Zeitungen nach den Grenzern geworfen, 101 Mal „Nahrungs- und Genussmittel“. Hinzu kommen „25 Zurufe“, 33 Mal Winken und acht Aufforderungen zum Desertieren. Lange her – scheinbar. obs

Im Bahnhof Jannowitzbrücke, bis 11.11., Do/Fr/Sa 14 bis 19 Uhr, Eintritt frei.

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