zum Hauptinhalt

Berlin: Kemal Altuns Sprung in den Tod: „Er zögerte keine Sekunde“ Wolfgang Wieland erinnert sich an den Selbstmord vor 20 Jahren

Hat er wirklich noch gerufen: „Kemal, tu es nicht“? In einigen Zeitungen stand es damals so, aber der angebliche Rufer, Wolfgang Wieland, möchte sich dafür nicht verbürgen.

Von Sandra Dassler

Hat er wirklich noch gerufen: „Kemal, tu es nicht“? In einigen Zeitungen stand es damals so, aber der angebliche Rufer, Wolfgang Wieland, möchte sich dafür nicht verbürgen. An alles andere erinnert sich der innenpolitische Sprecher der Berliner Grünen und ehemalige Justizsenator nur zu gut: „Er saß zwischen dem Dolmetscher und mir. Plötzlich sprang er auf, rannte zur Fensterbank und zögerte keine Sekunde – es geschah in einer einzigen Bewegung.“

Der Todessprung des 23-jährigen Türken Kemal Altun aus dem 6. Stock des Verwaltungsgerichts in der Hardenbergstraße schockierte heute vor 20 Jahren viele Menschen in Deutschland. Altun, der von Wolfgang Wieland verteidigt wurde, war der erste politische Flüchtling, der sich aus Angst vor Auslieferung das Leben nahm. Er gehörte in seiner Heimat zur demokratischen Opposition, 1981 floh er vor den in Ankara herrschenden Militärs nach West-Berlin.

Altun hatte den deutschen Behörden, die seinen Asylantrag bearbeiteten, mitgeteilt, dass man ihn fälschlicher Weise beschuldige, an der Ermordung eines türkischen Ministers beteiligt gewesen zu sein. Er beteuerte, nichts mit der Tat zu tun gehabt zu haben. Die deutschen Behörden fragten in Ankara nach, ob etwas gegen Altun vorliege, und verrieten den Militärs dadurch, wo sich der junge Mann aufhielt. Die Türkei stellte ein Auslieferungsgesuch, Altun wurde in Auslieferungshaft genommen. Als er schließlich als politisch Verfolgter anerkannt worden war, klagte der Bundesbeauftragte für Asyl-Angelegenheiten des Innenministers Friedrich Zimmermann (CSU) gegen die Anerkennung. Sowohl Zimmermann als auch dem damaligen Justizminister Hans A. Engelhard (FDP) lag an einer guten polizeilichen Zusammenarbeit mit der Türkei. Dass auch der spätere Außenminister Klaus Kinkel (FDP), damals Staatssekretär im Justizministerium, den harten Kurs unterstützte, kann Wolfgang Wieland nicht bestätigen: „Unter der Hand hatte mir Kinkel zugesagt, dass Kemal nicht ausgeliefert werden würde. Mir war klar, dass die Regierung das nicht wagen konnte, denn der Fall löste eine europaweite Welle der Solidarität mit Altun aus.“

Wieland hatte seinem Mandanten auch immer wieder zugesichert, dass keine Auslieferung drohte: „Aber Kemal saß 13 Monate unter verschärften Bedingungen in Moabit. Im März 1983 hatten sie ihn mit den Worten ’Jetzt geht’s Richtung Türkei’ aus der Zelle geholt und zum Flughafen gefahren. In letzter Minute konnte ich das stoppen. Kemal hat einfach nicht mehr an einen guten Ausgang geglaubt. Und ich glaubte nicht, dass er sich etwas antun würde, solange keine Auslieferung anstand. Ich habe mich geirrt.“

Heute wird Wolfgang Wieland einen Kranz am 1996 errichteten Mahnmal für Kemal Altun niederlegen und morgen Abend an einer Gedenkveranstaltung in der Heilig Kreuz Kirche teilnehmen. Flüchtlingsinitiativen haben für den heutigen Sonnabend in Erinnerung an Kemal Altun und den Tod anderer von Abschiebung bedrohter Flüchtlinge zu einem Aktionstag aufgerufen. Er beginnt um 12.30 Uhr auf dem Breitscheidplatz.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false