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Kiezbücher: Ganz nah dran

Kiezbücher liegen im Trend. Drei neue Bände erzählen Geschichten aus Lichterfelde-West, Friedenau und Schöneberg.

Die Buchvorstellung geriet zum Kieztreff. Harald Hensel hatte die 30 Autoren seines neuen Buches über Lichterfelde-West nach 1945 in den Saal der Johannesgemeinde eingeladen. Sie erzählen in dem Band von ihrer Kindheit und Jugend in der um 1900 gegründeten Steglitzer Villenkolonie – wie sie gewohnt, gelitten, gehofft, gespielt, gelernt, gearbeitet und sich amüsiert haben. Alle leben bis heute dort, jeder hat eines der 30 Kapitel geschrieben. Aber nun erst lernten sich die meisten kennen, tauschten Erinnerungen und Adressen aus und verglichen ihre Kinder- und Jugendbilder, die im Buch abgebildet sind, mit den heutigen Gesichtern. Dem Herausgeber und Verleger wurde klar: Dies ist mehr als ein unterhaltsamer Kiez-Rückblick.

„Das Buch trifft den Nerv vieler Zeitzeugen“, sagt Hensel. Viele ältere Menschen wollten ihre Erfahrungen und Erlebnisse weiterreichen, „nun gibt es dafür eine Plattform“. Nachdem Hensels Band Anfang des Jahres erschien, bildete sich ein Zeitzeugen-Gesprächskreis. Und im Briefkasten des 59-jährigen Geografen, der 1950 nach Lichterfelde-West zog, stecken seither so viele Manuskriptangebote und Fotos aus Privatalben wie noch nie. Leser erinnern sich an eigene Geschichten und schreiben diese auf. Sie hoffen auf Nachfolgebände.

Eine solche Erinnerungsreihe könnte durchaus in die Regale kommen, sollte sich das Buch weiterhin so gut verkaufen. Die ersten 600 Stück waren schnell weg, inzwischen wurde die Zweitauflage gedruckt. Das bestätigt den derzeitigen Trend in der lokalen Buchbranche. Kiezbücher, die von Anwohnern aus Liebe zu ihrem Stadtteil herausgebracht werden, sind gefragt. Diese Erfahrung machten auch Evelyn Weissberg und Hermann Ebling in Friedenau. Im Januar haben sie das zweite Buch in ihrer Reihe „Friedenau erzählt“ herausgebracht. Im ersten Band dokumentierten sie „Geschichten von 1871 bis 1914“, die zweite Ausgabe lädt nun zur Zeitreise von 1914 bis 1933 ein. Allerdings haben sie ein anderes Konzept als Hensel. Ihre Bücher ähneln einem Kaleidoskop. Im neu erschienenen Band fügen sich mehr als 100 Texte aus dem „Friedenauer Lokalanzeiger“, aus privaten Aufzeichnungen oder literarischen Schriften zu einem Gesamtbild der Epoche zwischen Weltkrieg und Hitlers Machtübernahme zusammen – spannend nicht nur für Friedenauer. Wenn die zehnjährige Irmi an ihren „Lieben Vati“ im Krieg schreibt, wird Weltgeschichte im Lokalen greifbar. 1919 marschiert die Einwohnerwehr gegen die „wühlenden Spartakisten“ auf, 1932 wird der Friedenauer Künstler Friedrich Wendel wegen Gotteslästerung verurteilt. Er hatte im „Wahren Jacob“ eine mit Guillotine und Hakenkreuz gezierte Monstranz veröffentlicht, um die Widersprüchlichkeit zwischen dem Glaubensbekenntnis vieler Nazis und ihren Taten zu geißeln. Auch der Alltag kehrt im Buch zurück. Der Steglitzer „Markt der Wunder“, Claire Waldoffs Auftritt in den Hohenzollern-Lichtspielen, die 1925 beklagte „Selbstmord-Epidemie“ oder die Kür von Dorit Nitykowski aus Friedenau zu Deutschlands Schönheitskönigin 1930. Vieles könnte auch heute in der Zeitung stehen. Film-Dreharbeiten auf der Straße, Klagen über Kinderlärm und Kurt Tucholskys Satire „Kaiserallee 150“ über ein anständiges Mietshaus. „Nein, Musik wird nicht gemacht.“ Der Schriftsteller wohnte von 1920 bis 1923 in der Kaiserallee 79, der heutigen Bundesallee.

Seit 30 Jahren leben Evelyn Weissberg und Hermann Ebling in Friedenau, ebenso lange sammeln sie Postkarten und vieles andere aus ihrem Stadtteil. Er ist Tonmeister, sie Grafikerin. Gemeinsam gründeten sie den Eigenverlag „edition Friedenauer Brücke“. Recherche, Gestaltung, Vertrieb – alles stemmen sie selbst. „Das ist ein aufwendiges Hobby, macht aber Spaß“, sagt Ebling. Zumal ihnen Archive und Sammler von Fotografien und Postkarten inzwischen ihre besten Stücke anbieten. Deshalb ist auch der neue Band reich illustriert.

Ein ähnliches Netzwerk zur Bewahrung historischer Kiezschätze knüpft auch Harald Hensel mit seinem Zeitzeugenbuch in Lichterfelde-West. Auf dessen Cover ist ein Junge an einem Trinkbrunnen auf dem örtlichen S-Bahnsteig abgebildet, fotografiert 1955, archiviert im Heimatmuseum. Kaum war das Buch erschienen, meldete sich bei Hensel ein 60-Jähriger. „Ist ja toll, dass ich da drauf bin“, sagte er. „Wir kamen damals gerade vom Strandbad Wannsee zurück.“

Doch wenngleich sich der Blick in solchen Kiezbüchern oft in die Vergangenheit richtet – zwingend ist das nicht, wie die Bände des Fotografen Stefan Maria Rother zeigen. Er zeigt die Gegenwart, die heutigen Bewohner in ihrem Alltag, erst in dem Band „Alte und Neue Schönhauser Straße“, dann in „Bergmannstraße“ und nun in „Winterfeldtplatz“, wobei der längst legendäre Schöneberger Markt im Mittelpunkt steht. Die jüngsten Fotomodelle heißen Aaron und Lili, der Fotograf traf sie schlafend im Kinderwagen. Vielleicht bekommen auch sie den Band in einigen Jahrzehnten in die Hand und freuen sich: „Ist ja toll, dass wir da drauf sind.“

„Lichterfelde-West nach 1945 – Menschen, Erlebnisse, Erinnerungen“, herausgegeben von Harald Hensel. 186 Seiten, 18 Euro. Erhältlich in der Buchhandlung Bodenbender am S-Bahnhof Lichterfelde-West und in der Lichterfelder Buchhandlung, Oberhofer Weg 15.

„Friedenau erzählt – Geschichten aus einem Berliner Vorort 1914 bis 1933“, edition Friedenauer Brücke, Berlin. 350 Seiten, 39 Euro (ISBN: 978-3-9811242 -2-4).

Stefan Maria Rother: „Winterfeldtplatz“, Berlin-Story-Verlag, Berlin. 80 Seiten, 16,80 Euro (ISBN: 978-3-86855-008-5).

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