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Beruflich deutscher Schriftsteller, privat Russe. Seit 28 Jahren wohnt Wladimir Kaminer in Prenzlauer Berg.

© Mike Wolff

Kiezspaziergang mit Wladimir Kaminer: „So russisch wie hier sieht es nicht mal in Russland aus“

Vom alten Prenzlauer Berg ist so gut wie gar nichts geblieben. Trotzdem lässt Wladimir Kaminer auf sein Gleimviertel nichts kommen.

Weihnachten kommt wie immer ein bisschen zu früh, jedenfalls für den russischen Kalender. In Wladimir Kaminers alter Heimat feiern sie erst am 7. Januar, seine persönliche Party steigt immerhin schon in der Silvesternacht – auf dem Balkon an der Gleimstraße. „Wenn Sie in der Tagesschau das große Feuerwerk über Berlin sehen – das kommt von mir und meiner Familie.“

Seit gut 28 Jahren lebt Kaminer in Berlin, länger als in seiner Geburtsstadt Moskau. Beruflich definiert er sich als deutscher Schriftsteller, aber privat ist er immer noch Russe und hat wenig mit Tanne und Lametta an der Schapka. Bei der Schapka handelt es sich um ein russisches Pelzmützchen, überaus hilfreich bei der Handhabung des garstigen Berliner Winterwetters, das seine Frau Olga mal „Faschismus der Natur“ genannt hat. Kaminer steht in der geöffneten Wohnungstür und verweist darauf, „dass es draußen verdammt kalt ist“ und ob das unbedingt sein müsse mit dem Spaziergang durch seinen Kiez in Prenzlauer Berg. „Ich kenne eine schöne Kneipe drüben am Falkplatz, da gehen wir jetzt auf einen Kaffee hin und ich erzähle Ihnen alles, was Sie wissen wollen, einverstanden?“

Kaminer lädt traditionell am 25. Dezember in den Roten Salon der Volksbühne

Der vorweihnachtliche Spaziergang mit Berlins lustigstem, bekanntestem und erfolgreichstem Russen hat einen längeren Vorlauf. Bei der ersten Verabredung vor einem Jahr ist völlig unvorhergesehen der Geburtstag seiner Mutter dazwischengekommen. Ein zerstreut-zerknirschter Wladimir Kaminer stand damals in der offenen Tür. Sowas Blödes aber auch, „tut mir leid, da habe ich wohl etwas durcheinandergebracht, können wir uns vertagen?“

Praktischerweise fällt Heiligabend auch 2018 auf den 24. Dezember, gefolgt vom ersten Weihnachtsfeiertag, an dem Kaminer traditionell in den Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz lädt. Ab 21 Uhr liest er unveröffentlichte Texte vor, „am liebsten Tragödien, die gut ausgehen“. Danach legt er noch ein paar Stündchen besinnlich-raue Partymusik auf. So lange, bis keiner mehr tanzen kann, und das dauert bei Kaminers Russendisko für gewöhnlich bis in die frühen Morgenstunden.

"Mein Vormieter ließ sogar die Zahnpasta auf dem Küchentisch liegen"

Jetzt erst mal raus in die Kälte. Wladimir Kaminer hüllt sich in eine pelzkragenumrahmte Jacke und stopft die dunkelblaue Hose mit dem roten Längstreifen in die Lederstiefel, was ihn in der Gesamtkomposition wie einen lässigen Offizier wirken lässt. Er ist 51 Jahre alt und mit mehr als drei Millionen verkauften Büchern ein Schwergewicht des deutschen Literaturbetriebs. „Russendisko“ hieß sein erstes Buch. Allerlei maßlos übertriebene und doch wahrhaftige Miniaturen über das wilde Berlin der Nachwendezeit, unter anderem über die namengebende Party mit schweren Klängen und viel Akkordeon. Die Premiere haben sie Anfang der Neunziger im Tacheles an der Oranienburger Straße gefeiert, einem Fixpunkt des chaotisch-kreativ vor sich hin wuchernden Kulturbetriebes.

Von diesem Berlin ist wenig geblieben und in Prenzlauer Berg so gut wie gar nichts. Im Sommer 1990 hat Kaminer hier seine erste Wohnung bezogen, in der Lychener Straße, ein paar hundert Meter weiter auf der anderen Seite der Schönhauser Allee. Spontanbesetzung, „zu der Zeit standen viele Wohnungen leer“, verlassen von Ost-Berlinern, „die dachten, dass in der nächsten Woche die Mauer wieder aufgebaut wird. Mein Vormieter ließ sogar die Zahnpasta auf dem Küchentisch liegen.“ Weiter ging's über Zwischenstopps in der Stargarder Straße, Schönhauser Allee und Dunckerstraße in die Wohnung an der Gleimstraße, gleich neben dem Mauerpark, wo es keine Bäume gibt und schon länger keine Mauer mehr, von wenigen Resten mal abgesehen.

Früher hat Kaminer gern bei den türkischen Händlern in Gesundbrunnen eingekauft

Die Gleimstraße ist eine von vielen Ost-West-Verbindungen, die auch 29 Jahre nach dem Mauerfall wenig Verbindendes haben. 300 Meter in Gesundbrunnen und ein knapper Kilometer in Prenzlauer Berg bis hin zur Hochbahn an der Schönhauser Allee. Selten wagt sich einer von der einen auf die andere Seite, vorbei an den kapitellverblendeten Säulen des Gleimtunnels, einer Bahnunterführung, die mal im Rang einer Staatsgrenze stand. Kaminer hat früher ganz gern bei den türkischen Händlern in Gesundbrunnen eingekauft und seinen beiden Kindern am Beispiel des Tunnels das vergangene Phänomen namens Berliner Mauer erklärt. Die Geschichten in seinen Büchern spielen fast alle auf der östlichen Seite.

Kaminer verstaut die Hände in der Pelzkragenjacke und stapft hinüber Richtung Max-Schmeling-Halle zum Falkplatz, vorbei an einem Birkenwäldchen, „so russisch wie hier sieht es nicht mal in Russland aus“. Er würde das gern noch ein wenig vertiefen, aber das Telefon klingelt. Der Fotograf einer norddeutschen Zeitung, er muss unbedingt und sofort noch ein paar Bilder machen. Kaminer fragt: „Ist das okay, wenn der Mann kurz dazukommt?“ Schnell rein ins Warme, großes Hallo mit der Wirtin. Vorn sitzt eine Brigade Handwerker im Blaumann, dahinter ein schwer tätowierter Kahlkopf. Kaminer schätzt das „Café Meta“, weil es noch eine echte Berliner Kneipe ist mit Berlinern, die schon vor der Bundesregierung da waren, „hier darfst du rauchen und in der Küche steht noch ein richtiger Koch“. Alles nicht mehr selbstverständlich im Gleimviertel, aber dazu später mehr. Kaminer wirft die Jacke auf einen Stuhl an dem langen Ecktisch, aber da weht auch schon der norddeutsche Fotograf herein und regt ein Motiv in der Schwedter Straße an, „am besten direkt vor dem Straßenschild“. Zu weit, zu kalt, sagt der frierende Literat und posiert für ein schnelles Foto vor der Kneipentür.

"Das sind doch keine Restaurants, das sind Spätis mit Essensausgabe"

Zurück an den langen Ecktisch. Beim Kaffee erzählt Kaminer von der Gleimstraße und dass sie es wert sei, Hauptdarstellerin eines eigenen Buches zu werden, „eigentlich ist die ganze Straße eine einzige Geschichte“. Freundliche Nachbarn in den schönen Häusern aus der Gründerzeit, fast alle sind sie frisch gestrichen, weiß, gelb oder grün und eines sogar in leuchtendem Orange. Neulich haben sie vor seinem Nachbarhaus protestiert, gegen einen bevorstehenden Verkauf, und natürlich sind sie auch zu ihm gekommen: „Sie sind doch eine Person des öffentlichen Lebens, Herr Kaminer, Sie müssen sich äußern“ – gegen die Schwaben, die alles aufkaufen und die alten Einwohner verdrängen.

Kaminer entgegnet dann gern, dass die meisten alten Anwohner ja auch erst seit ein paar Jahren hier leben und vorher die noch älteren verdrängt haben. „Ich habe auch nichts gegen Schwaben, bei uns im Haus kommen sie aus Bayern“, übrigens sehr nette Leute. Er finde es auch nicht schlimm, wenn die Leute in Prenzlauer Berg von Papas Geld leben, „das ist doch besser, als wenn Papa sein Geld für sich in Bayern oder Schwaben behält“. Und was die Gentrifizierung betrifft: Ist nun mal so, er habe sich das allerdings ein bisschen anders vorgestellt, „mit schicken Restaurants und so. Aber hier gibt es alle paar Meter Spätis mit der Flasche Sterni für 80 Cent“. Und die vielen BodegaBistroBars mit ihrem südamerikanischen, fernöstlichen oder arabischen Migrationshintergrund? „Ich bitte Sie! Das sind doch keine Restaurants, das sind Spätis mit Essensausgabe.“

"Es gibt sogar einen Laden für Kamine"

Schönes Bild. Kaminer nickt zufrieden und erzählt von der alten Apotheke weiter vorn am Falkplatz, geführt von einem rauchenden Apotheker, das ging nicht lange gut bei der gesundheitsbewussten Anwohnerschaft. Als Nachmieter sprang ein Inder ein, der in der Gleimstraße schon zwei Restaurants betrieb. Jetzt wollte er gern ein drittes aufmachen, was der Vermieter aber mit dem Verweis auf kulinarische Vielfalt ablehnte. „Also hat er aus der Apotheke ein mexikanisches Restaurant gemacht. Mit derselben Speisekarte, hundert Teigtaschen für 3,99. Mit indischen Kellnern, die in Poncho und Sombreros bedienten. Alles wirklich exakt so wie in den beiden indischen Läden. Aber es geht keiner hin. Die Leute wollen das Original“ – Kellner mit Turban und ohne Sombreros.

Und sonst? Wofür steht die Gleimstraße jenseits der neuen Berliner Erlebnisgastronomie? Kaminer überlegt ein paar Sekunden, wie so oft, wenn er nach der perfekten Formulierung sucht, und er hat noch immer eine gefunden, auch für die Geschäftswelt in seinem Kiez. Alles Betrug hier, „vielleicht auch geheime Filialen der CIA. Geschäfte, in denen Sie Ersatzteile für Wasserpfeifen kaufen können. Es gibt sogar einen Laden für Kamine“, vorn an der Ecke Sonnenburger Straße, „da ist noch nie ein Kamin verkauft worden! Das müsste ich doch wissen, meine Vorfahren waren Kaminbauer. Was glauben Sie, woher ich meinen Namen habe?“

Am 25. Dezember liest Wladimir Kaminer ab 21 Uhr im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und lädt im Anschluss zur Russendisko, Ende offen.

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