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Quatsch machen fehlt. So was ging ewig nicht mehr, ein Chat ersetzt das nicht.

© imago images/Westend61

Kinder und Jugendliche in Berlin klagen über Corona-Krise: „Ich darf nicht mehr raus auf die Straße“

Missbrauch, Elternstreit, Einsamkeit: Die Ehrenamtlichen vom Kinder- und Jugendtelefon Berlin werden zunehmend mit Corona-Nöten konfrontiert.

Wenn Antje Weineck* von einem Jugendlichen angerufen wird, hört sie schon mal schreiende Eltern im Hintergrund. Oder die leise Stimme eines Kindes, das einen alkoholkranken Vater ertragen muss, der es im Corona-Lockdown noch häufiger sexuell missbraucht, und das dazu auf zwei jüngere Geschwister aufpassen muss. Manchmal hört die Pädagogin erst nur Stille, oder jemanden, der scheinbar belanglos Quatsch macht, und sie spürt: Der junge Mensch braucht Zeit, er wird erst später wagen, sich etwas von der Seele zu reden. Antje Weineck kommt aus Pankow, die 41-Jährige ist Pädagogin und Mutter, und sie engagiert sich seit gut zwei Jahren als ehrenamtliche Mitarbeiterin des Kinder- und Jugendtelefon Berlin, das zum bundesweiten Dachverband „Nummer gegen Kummer“ gehört. In der Stadt haben 64 weitere zuvor intensiv ausgebildete Ehrenamtliche ein Ohr speziell für Kinder und Jugendliche und ihre Probleme, und das anonym, ohne Kosten, vertraulich und geschützt. Auch ein Elterntelefon gibt es, da hören es 22 Ehrenamtliche zu.

Wenn Kinder anrufen, wird die Nummer aber nicht auf der Telefonrechnung angezeigt. Trotz der Übermacht der digitalen Medien gebe es immer noch das Bedürfnis, sich persönlich auszusprechen.

"Nummer gegen Kummer" wird seit 40 Jahren gewählt

In diesem Jahr hätte die „Nummer gegen Kummer“ das 40-jährige Bestehen gefeiert, nach all den Beratungen zu Mobbing, zu Schulproblemen. Aber dann kam Corona, „auch als Thema zu uns in die Beratung“, sagt Sabine Marx, Leiterin des Kinder- und Jugendtelefons beim Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. Durch die Coronakrise ist die Zahl der Anrufe bundesweit um 22 Prozent gestiegen, in Berlin gibt es ein Plus um elf Prozent – es wären wohl noch mehr, wenn auch in Berlin – wie im Bund – mehr Ehrenamtliche weiter ausgedehnte Beratungszeiten anbieten könnten. Denn der Bedarf ist groß.

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Die häusliche Gewalt nimmt zu. Eltern streiten sich, verletzen die Kinder verbal oder physisch. Auch von sexuellen Übergriffen wird vermehrt gesprochen“, sagt Diakonie-Sprecherin Susanne Gonswa. „Es gibt auch viele Einsamkeitsthemen, die Clique fehlt, die Schulfreunde fehlen – und Chatten wiegt dieses Defizit nicht auf. Oft reden die Kinder und Jugendlichen sich jetzt auch die Sorge um Oma und Opa von der Seele, oder sie haben plötzlich Todesfälle in der Familie oder im Freundeskreis durch Corona erlebt.“ Andere haben eine große Angst vor Krankheit und Tod entwickelt.

Natürlich beschäftige viele Jugendliche auch Themen, die mit ihrem Alter zu tun haben, wie Liebeskummer – und die quälende Sehnsucht durch die Trennung, „man kommt jetzt nicht mehr weiter“. Sexualität war und ist auch in Corona-Zeiten immer ein großes Thema, oft von Scham begleitet und in Geschichten oder Anruf-Scherz-Mutproben verpackt. Wenn ein Junge erzählt, er habe mit fünf Mädchen geschlafen, und fünf Mal sei das Kondom geplatzt, würden die Berater fragen, ob er mal so generell darüber reden möchte, wie das am besten mit der Verhütung laufe. Den Anrufer ernst nehmen, erspüren, was dahinter steckt, ihn selbst zu einem Ausweg hinführen, aber nicht bewerten und keinesfalls Patentrezepte ausgeben, das ist das Ziel.

Alleinerziehende sperren das Kind aus Angst vor Ansteckung weg

Beraterin Antje Weineck berichtet, dass derzeit auch viele Jugendliche anrufen, weil ihnen einfach langweilig sei, in selbst verordneten Corona-Ferien, weil sie die Schule am Computer nicht schaffen würden. „Andere dürfen seit Wochen wegen extremer Ansteckungsangst der jetzt sehr gereizten Eltern das Haus nicht verlassen, fühlen sich wie weggesperrt, wie im Käfig.“ Entweder, weil die Eltern gestresst und überfordert sind, andere Mädchen und Jungen sind wiederum aus Angst vor eigener Ansteckung auf Distanz gehalten – etwa wenn die Tochter den geschiedenen Mann getroffen hat, der im Drogenmilieu unterwegs ist. „Manche Kinder sind aber auch aus Überbehütung oder aus Strafe wegen der Pandemie zu Stubenarrest zwangsverpflichtet, und sie sagen dann am Telefon: ,Ich weiß nicht, was ich machen soll‘.“

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Antje Weineck ist fürs Ehrenamt bei der „Nummer gegen Kummer“ in Haltung, Selbsterfahrung, in Themen wie Pubertät, Essstörungen, Suizidprävention ausgebildet. Auch in Gesprächsführung, und sagt dann zum Beispiel: „Was gab es schon für andere schwierige Situationen mit Deinen Eltern, was hat damals geholfen? Hast Du eine Idee für einen Ausweg?“ Für viele Kinder aus problematischen Elternhäusern „war Schule eine Erholung, die fällt jetzt weg".

"Das Ehrenamt gibt mir viel zurück"

Für die Ehrenamtlichen, die in der Zentrale in einem der beiden Einzelzimmer vertraulich reden können, sind die Gespräche nicht immer einfach auszuhalten. „Doch es ist wichtig für die Anrufer, dass sie wissen, wenn sie sich hier melden, steht nicht gleich die Polizei vor der Tür, aber wir können die Jugendlichen etwa zu speziellen Beratungsstellen weitervermitteln“, sagt Weineck. „Kinder wissen genau, was sie wollen, was wichtig ist, und das ist nicht unbedingt das, was wir von außen für wichtig erachten. Annette KögelAntje Weineck arbeitet in der beruflichen Bildung, ihr Ehrenamt erfüllt sie, wie viele andere Berliner. „Ich habe ein Faible dafür, andere zu begleiten.“ Zu spüren, wie jemand ihr Vertrauen entgegenbringt, wenn Gegenfragen kommen, das mache ihr Spaß. „Ich bekomme viel zurück.“
*Name von der Redaktion geändert.

Die Rufnummer: 116 111. Online-Beratung über www.nummergegenkummer.de. Das Elterntelefon: 0800 111 0 550. Der nächste Ausbildungskurs für Berater*innen startet im Januar 2021, man kann sich bereits per Mail bewerben: geschaeftsstelle@berliner-kjt.de

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