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Kindermord-Prozess: Die stille Stunde der Julia K.

Als die Wehen einsetzen, verkriecht sich Julia K. in ihrem Zimmer, beißt in ein Stofftier. Die Eltern nebenan wissen nichts von der Schwangerschaft ihrer Jüngsten. Am Morgen finden sie ein totes Baby im Bett. Die Tochter steht wegen Totschlags vor Gericht.

Es fühlt sich an, als würden ihre Finger im nächsten Augenblick zerbröseln, so schwach ist der Händedruck. Die Arme drückt sie fest an ihren Körper, duckt sich in ihren Parka, als würde sie frösteln. Scheues Lächeln. „Guten Tag“, sagt Julia K. leise. Mehr als eine Begrüßung bringt sie nicht hervor, sie lässt ihre ältere Schwester reden. Über ihre Kindheit, ihr Leben, ihre Familie – und jene Nacht, in der Julias Neugeborenes starb.

Als sich Anastasia K. ins Café setzt, dreht Schwester Julia ab. Sie will nichts sagen und auch nichts hören, geht lieber mit ihrer Nichte spazieren. Julia K. schließt das Baby in den Arm. Womöglich wird die kleine Lia ohne ihre Tante aufwachsen. Womöglich muss Julia K. ins Gefängnis. Womöglich hat sie ihren eigenen Säugling getötet.

Am Tag, als der Prozess im September beginnt, gibt es für Julia K. kein Entrinnen. Dieses Mal muss sie zuhören, als sich der Staatsanwalt im Berliner Landgericht erhebt, um über die Frau auf der Anklagebank zu sprechen. Er wirft ihr vor, am 10. Dezember 2012 ihr Kind direkt nach der Geburt erstickt zu haben. Sie habe dem ungewollten Säugling mindestens zehn Minuten lang eine Decke auf das Gesicht gedrückt, heißt es in der Anklage.

Drei Monate lang hat die 24-Jährige in Untersuchungshaft gesessen. Erst sieht es nach einem zügigen Prozess aus: ungewolltes Kind, verdrängte Schwangerschaft, Totschlag, Geständnis. Bei der Polizei hat Julia K. zugegeben, ihr Kind nach der heimlichen Geburt im Schlafzimmer erstickt zu haben. Jetzt sagt die Angeklagte nichts mehr. Ihr Anwalt verliest eine Erklärung. Julia K. wollte ihr Kind niemals töten, sagt er. Seine Mandantin habe unter schrecklichen Schmerzen und starkem Blutverlust gelitten. Irgendwann habe sie „nur noch mechanisch“ gehandelt, sei ohnmächtig geworden. Als sie wieder erwachte, habe ihr Oberschenkel auf dem Baby gelegen. „Das Kind wirkte leblos, ich war schockiert und entsetzt“, heißt es in der Erklärung. Warum dann das Geständnis im Dezember? Der Verteidiger argumentiert, dass die Einlassung nicht zu gebrauchen sei, er stellt einen Antrag auf Nichtverwertbarkeit: Traumatisierung durch die Geburtsanstrengung, Übermüdung bei der Vernehmung.

Es wird ein langwieriger Prozess.

Julia K. fixiert die glänzend polierte Holzkante des Tischs, während die Juristen in den schwarzen Talaren über ihren Fall streiten. Sie trägt das rötlich schimmernde Haar lang, ihre Hände umklammern die Ellenbogen. Blazer, Bluse, dunkle Hose, saubere Ballerinas. Die hellroten Schmucksteine auf den Schuhen passen zum Nagellack. Julia K. blinzelt selten, obwohl das Licht, das durch die hohen Fenster fällt, sie blenden müsste.

Der Vater der Schwestern müsste nicht aussagen, könnte wie Julia K. jedes Zeugnis verweigern. Aber die Richter sollen verstehen, was für ein gutes Mädchen Julia ist, seine jüngste Tochter. Er beantwortet jede Frage im Zeugenstand.

Sie wirkt im Gerichtssaal wie erstarrt

Am Morgen des 10. Dezembers 2012 fehlt Julia K. beim gemeinsamen Frühstück. Sie wohnt noch bei den Eltern in Karow. Eine Dreizimmerwohnung in einem hellgelb verputzten Haus einer Neubausiedlung. Geschnittene Hecken, saubere Bürgersteige, die Grundschule gleich nebenan. Vielleicht schläft sie länger, denken die Eltern. Als sie einen dumpfen Aufprall hören, eilen sie ins Badezimmer. Sie finden Julia ohnmächtig und blutend auf den Fliesen: Was ist mit dir, Kind?

Die Tochter erklärt fahrig etwas von Menstruationsproblemen. Die Eltern rufen eine befreundete Ärztin an. Ist das normal? Die Ärztin beschwichtigt: Kann schon mal vorkommen, aber bringt sie zum Gynäkologen. Das will die Tochter nicht. Der Vater beschließt, bei ihr zu bleiben und sich um sein Kind zu kümmern. 1995 ist die Familie aus Russland nach Berlin gezogen. Die Mädchen haben sich in der neuen Heimat schnell zurechtgefunden, das Deutsch des Vaters ist noch immer brüchig. Ein Dolmetscher übersetzt für den 46-Jährigen im Prozess.

Die Mutter fährt zur Arbeit. Sie hat ein Büro angemietet und betreibt einen Online-Shop für Damenkleidung, Julia K. hilft fast täglich aus. Heute nicht. Sie soll sich schonen. Der Vater bringt Julia zur Wohnzimmercouch: Ruh dich aus, Kind. Julia läuft in der Wohnung umher, wieder zur Toilette. Vielleicht wäre es besser, sie in ihr Zimmer zu bringen, denkt der Vater. Er öffnet die Tür. Er schlägt die Decke zurück. Blut, überall Blut. So sehr blutet doch keine Frau bei der Menstruation?

„Dann sah ich, dass da noch etwas war. Ich dachte erst, das wäre ein Spielzeug, es war aber keins“, sagt Viktor K. Seine Stimme überschlägt sich. Der hochgewachsene Mann mit dem gutmütigen Gesicht kann nur schwer darüber reden, was er in Julias Zimmer fand. Ein totes Baby. Sein Enkelkind.

Julia K. wirkt wie erstarrt. Kaum wahrnehmbar sind ihre Bewegungen. Ihre Haare legen sich wie ein Vorhang vor ihr Gesicht, manchmal führt sie ein Taschentuch zu den Augen. Kein Schluchzen ist zu hören, als ihr Vater erzählt, wie sie hysterisch an dem Morgen geschrien habe: „Es tut mir alles so leid! Ich will nicht mehr leben!“

Der Vater ruft seine Frau an, seine Frau ruft die Ärztin an: „Da ist ein totes Kind in Julias Zimmer!“ Sie alarmieren die Polizei, die Feuerwehr, die Ärztin versucht, mit Julia zu sprechen. Hat das Kind bei der Geburt geschrien? Nein! Hast du in letzter Zeit Bewegung in deinem Bauch gemerkt? Nein! Wusstest du, dass du schwanger bist? Schweigen.

Die Maschinerie der staatlichen Todesursachenermittlung läuft an. Die Kripo kommt. Sie vernimmt die Eltern, die Ärztin und auch Julia K., als sie bereits im Krankenhaus liegt. Die Untersuchung der Gerichtsmedizin ergibt, dass das Kind bei der Geburt gelebt hat.

Weiß sie, was sie da redet, als sie dem Drängen der Polizisten nachgibt?

Vor Gericht sagt die Ermittlerin der Mordkommission, Julia K. habe „erstaunlich ruhig und gefasst“ auf sie gewirkt. Es sei ihr merkwürdig vorgekommen, dass sie andauernd denselben Satz wiederholt habe: „Es hat nicht geschrien, es hat sich nicht bewegt.“

Der Richter verliest das Protokoll der Vernehmung bei der Polizei:

„Haben Sie das Kind getötet?“

„Ich kann das nicht aussprechen. Ich hatte nie gedacht, dass mir so etwas passiert. Ich wünschte, ich könnte alles rückgängig machen.“

„Möchten Sie noch etwas sagen?“

„Ich habe das Baby getötet.“

Da ist es, das Geständnis.

Julia K. gibt an, eine Decke auf das Kind gedrückt zu haben. Weiß sie, was sie da redet, als sie dem Drängen der Polizisten nachgibt? Nach über 30 Stunden Wachseins?

Als Julia K. in U-Haft sitzt, erzählt sie der vom Gericht hinzugezogenen Sachverständigen, Psychotherapeutin Cornelia Mikolaiczyk, sie habe sich sehr unter Druck gesetzt gefühlt und könne gar nicht genau erinnern, was in der Nacht geschehen sei. Die Gutachterin weiß nicht, welcher der beiden Versionen die Richter Glauben schenken soll. Fest steht für sie lediglich, dass die Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat unter einer „akuten Belastungsreaktion“ gelitten habe. Sie blickt Julia K. an – keine Reaktion. „Die Angeklagte ist sehr zurückhaltend. Sie hat selbstunsichere Persönlichkeitszüge und vertraut auch kaum in andere.“

Die Menschen sollen Julia K. verstehen, das treibt auch die Schwester Anastasia an. Deshalb ist die Schwester in das Café in Prenzlauer Berg gekommen. Sie ist 26 und wirkt wie der Gegenentwurf zu dieser verschlossenen Frau. Anastasia K. ist zarter, schlanker, größer als die Jüngere. Sie ist offen, wo Julia sich verschließt. Aktiv, wo die Schwester passiv bleibt.

Das war schon immer so, sagt die Ältere: „Ich habe viel mehr Aufmerksamkeit bekommen.“ In der Familie sei sie selbst das Sorgenkind gewesen, oft krank, Allergikerin. Ein Konkurrenzverhältnis habe es zwischen den Mädchen nie gegeben, dafür aber klare Rollen. Julia K. übernimmt früh die Position der Reiferen, der Genügsamen, und so bleibt es auch während der Pubertät. Anastasia geht feiern, Julia bleibt lieber daheim. Als sie 18 ist, zieht die ältere Schwester mit ihrem Freund zusammen. Bis dahin hatten sich die Mädchen ein Zimmer geteilt.

Die Beziehung der beiden wird noch enger. Julia K. übernachtet häufig bei ihrer Schwester, die jetzt Modedesign studiert. „Für Männer hat sie sich lange nicht interessiert“, sagt Anastasia K. Das ändert sich Anfang 2011, als sie Eugen kennen lernt und der junge Mann sie heftig umwirbt. „Fast jeden Tag schickte er Blumen“, sagt die Schwester.

Die Gutachterin spricht von „altruistischer Abtretung“

Die Familie freut sich, dass die beiden ein Paar werden. Doch der Kavalier verliert nach ein paar Monaten das Interesse. Er macht Schluss per SMS. Die Eltern versuchen zu trösten: „Vergiss den Kerl, der war nicht gut genug für dich.“ Was man eben sagt zur Tochter mit gebrochenem Herzen. Dass Eugen und Julia im Dezember wieder zusammenkommen, erfahren die Eltern erst später von der Schwester. Natürlich gefällt ihnen das nicht. Aber, Kinder, was will man machen, wenn sie erwachsen sind?

Als Eugen sie im Frühjahr 2012 ein zweites Mal verlässt, wieder per SMS, ist Julia K. am Boden zerstört. Im Prozess sagt die Mutter: „Ich glaube, Julia hat die zweite Trennung nicht verkraftet. Aber sie hat das nicht mit uns geteilt“, erzählt die Mutter. „Sie hat immer gesagt, alles ist in Ordnung.“

Julia K. scheint unmerklich die Kontrolle zu entgleiten. An der Uni, sie studiert Sicherheitsmanagement, läuft es nicht gut. Das Thema, das sie in ihrer Bachelorarbeit umsetzen möchte, wird abgelehnt. Mehrfach. Sie erzählt nichts davon. „Wie läuft’s im Studium?“, fragen die Eltern. „Passt schon“, sagt Julia.

Vielleicht geben sie sich schnell mit solchen Aussagen zufrieden, weil sie wissen, dass die Tochter nicht gern über Probleme spricht. Vielleicht sind sie auch einfach froh, dass Julia K. jetzt wieder Zeit hat, sie im Online-Shop zu unterstützen, Kundenakquise, Artikelbeschreibung, Papierkram. Die Gutachterin Mikolaiczyk spricht von „Rationalisierung“ und „altruistischer Abtretung“: Wer sich liebevoll und aufopfernd um andere kümmert, muss nicht spüren, wie unglücklich er selbst ist.

Julia K. fliegt über den Sommer zu Freunden nach Australien, da ist sie bereits schwanger. Im Urlaub erfährt sie, dass sie Tante wird. Mutter, Vater, Anastasia, deren Freund – alle freuen sich auf das Kind. Natürlich. Anastasias Schwangerschaft verläuft problematisch, Julia ist immer für ihre Schwester da. Als Anastasia vorzeitige Wehen bekommt, ist Julia Tag und Nacht an ihrer Seite. Dass sie selbst schwanger von ihrem Ex-Freund ist, nimmt niemand wahr. Am 8. Dezember, das ist zwei Tage vor ihrer eigenen Geburt, schmeißt Julia K. für ihre Schwester noch eine Babyparty.

Der Vorsitzende Richter fragt die Mutter:

„Haben Sie die Schwangerschaft ihrer Tochter bemerkt?“

„Nein. Wir haben die gleiche Konstitution, meine Tochter und ich. Wir legen beide schnell zu. Ich habe sogar ein bisschen mit ihr geschimpft, du musst abnehmen.“

„Ich habe nichts gewusst, nichts“, sagt der Vater und schüttelt energisch den Kopf. Dass sie sich Vorwürfe machen, ist unverkennbar.

20 Fälle von Neonatizid pro Jahr in Deutschland

Wenn Julia K. von anderen auf ihre Figur angesprochen wird, schiebt sie es auf zu viel Fastfood in Australien. Einen Schwangerschaftstest macht sie in all den Monaten nicht nicht. Weil sie Angst vor dem Ergebnis hat? Oder weil sie gar nicht weiß, dass sie schwanger ist? „Die menschliche Psyche ist fähig, den Körper in fast unbegrenzter Weise zu beherrschen“, sagt Peter Rott, Gynäkologe und Psychotherapeut. Er hat verdrängte Schwangerschaften erforscht und kennt jede Erklärung, die Frauen wie Julia K. für Schwangerschaftsanzeichen finden:

Kindsbewegungen? Magenprobleme.

Gewichtszunahme? Zu wenig Sport.

Ausbleiben der Periode? Stress.

Es komme immer wieder vor, dass Schwangerschaften nicht wahrgenommen werden, dies gelte für die Angehörigen genauso wie für die werdenden Mütter. „Auf etwa 500 Schwangerschaften kommt eine unbemerkte“, sagt Psychotherapeut Rott. „Je größer der eigene innere Konflikt, desto stärker der Schutzmechanismus der Psyche. Die Schwangerschaft darf nicht sein, kann nicht sein. Also wird sie weggeschoben.“

Die Schwester sagt, dass Julia K. ihrer Familie bis heute nicht erzählt habe, wann sie realisierte, tatsächlich schwanger zu sein. Fest steht, am 9. Dezember gegen 23 Uhr merkt sie, dass sie kurz vor der Niederkunft steht. Suchprotokolle auf ihrem Handy verraten das. Sie beginnt zu googlen: „krasse Unterleibsschmerzen während der Schwangerschaft“, 01:13 „wann beginnt die Geburt?“, 01:41 „alleine entbinden zu Hause“, 01:55 „gebären ohne Hebamme und Arzt“. Dann um 02:05 „Babyklappe Berlin“. Hat sie noch darüber nachgedacht, das Kind wegzugeben? 03:07 „Fruchtblase geplatzt“, 03:16 „Presswehen“. 03:31 „wann weiß man, dass man pressen darf?“, 05:23 „wenn man zu früh presst“.

Das Baby kommt. Im Krankenhaus wird Julia K. sagen, mit den Füßen zuerst. Eine Steißgeburt. Sie ruft nicht nach ihren Eltern, die in der Wohnung schlafen, sie stopft sich ein Kuscheltier in den Mund. Der Kopf steckt im Geburtskanal fest, Julia muss am Kind ziehen. Sie erleidet einen Dammriss. Sie verliert massiv Blut. Stunden später, um 8:45 Uhr, sucht Julia K. mit dem Handy „großer Blutverlust nach Geburt“.

Da ist das Kind seit etwa drei Stunden tot. Etwa 20 Fälle von Neonatizid, dem Totschlag an Neugeborenen innerhalb der ersten 24 Stunden, registriert die polizeiliche Kriminalstatistik pro Jahr in Deutschland. Eine verdrängte Schwangerschaft führt nicht immer zum Neonatizid. Doch geht diesem immer eine verdrängte Schwangerschaft voraus.

Julia K. besucht täglich das Grab ihres Kindes, sagt die Schwester. Es war ein Junge, sie konnte ihn nicht beerdigen. Sie konnte ihm keinen Namen geben, denn sie saß im Gefängnis. Seit sie aus der U-Haft wieder entlassen ist, geht Julia K. regelmäßig zu einem Psychologen. Er soll die junge Frau lehren, ihr „affektives Selbsterleben“ wahrzunehmen, die eigenen Probleme und Bedürfnisse anzusprechen.

Für Nichte Lia ist Julia „wie eine zweite Mutter“, sagt Anastasia K. Sie lächelt beim Blick auf die Schwester, die jetzt im Café an einem der Nebentische sitzt und mit der Kleinen spielt. Anastasia K. sagt: „Diese Tragödie hat unsere Familie zerstört.“ Julia dürfe nicht verurteilt werden, sie sei doch ihre Bezugsperson. Und was werde dann mit den Eltern? Mit dem Laden? „Ich habe Angst, dass wir das alles nicht schaffen.“

Das Urteil des Berliner Landgerichts wird im November erwartet, bis dahin bleibt Julia K. auf freiem Fuß. Vielleicht ist es ganz gut, dass sie nicht immer hört, was andere über sie reden. „Es wäre so ein Glück, wenn wir beide Eltern wären“, sagt die Schwester. Lia ist neun Monate alt. Ihr Cousin ist seit zehn Monaten tot.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Claudia Beckschebe

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