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Kinder

© Davids

Kindertag: Störfaktor Sprössling

Sind lärmende Kinder eine Zumutung? Die Klagen mehren sich. In Friedenau sollte eine Kita schließen – ausgerechnet am Sonntag, da ist internationaler Kindertag.

Die einen erfreuen sich an spielenden und tobenden Kindern. Für andere ist ihr Geschrei Anlass, vor Gericht zu ziehen. „Es gibt in Berlin immer mehr Fälle, in denen Anwohner gegen Lärm von Kindern und Jugendlichen in Wohnungen und Kindertagesstätten, auf Spiel- und Bolzplätzen sowie auf Fußballplätzen klagen“, sagt Holger Hofmann vom Deutschen Kinderhilfswerk. Kinder als Störfaktor: In Friedenau wurde jetzt einer Kita gekündigt. Ein Nachbar hatte wegen des Kinderlärms geklagt – und in erster Instanz Recht bekommen. Berliner Jugendstadträte fordern nun mit dem Deutschen Kinderhilfswerk, das Land Berlin solle seine Lärmschutzverordnung ändern. Danach ist nämlich Kinderlärm mit Gewerbelärm gleichgestellt – und wird sogar als schädigender als das Kreischen einer Kreissäge eingestuft. „Die öffentlichen Orte für Kinder in dieser Stadt sind bedroht“, sagt Kinderhilfswerk-Sprecher Michael Kruse. Eltern haben es schwer in dieser Stadt. Und die veranstaltet heute den Internationalen Kindertag.

Dass viele Großstädter aggressiv und genervt auf den Lärm aus der Nachbarschaft reagieren, gibt laut Angelika Schöttler (SPD), Jugendstadträtin in Tempelhof-Schöneberg, Grund zur Sorge. „Es ist bedrückend, welch geringe Wertschätzung von Kindern sich da offenbart“, sagt sie. „Solange man Kinder nicht nur vor dem Fernseher und dem Computer ruhigstellt, gehören solche Ausdrucksformen doch nun mal zum typischen Wesen eines Kindes.“

In Schöttlers Bezirk tobt gerade ein bemerkenswerter Rechtsstreit ums Kinderspiel: in Friedenau, in der Odenwaldstraße, in der Kita Milchzahn. Hier haben Eltern vor Jahrzehnten in Eigeninitiative eine Kita gegründet. „In einem ehemaligen Laden“, erinnert sich Kitaleiterin Renate Kühl. 14 Kita- und 18 Hortkinder werden im Erdgeschoss und Hochparterre des Altbaus von je zwei Erzieherinnen betreut – in Kooperation mit der benachbarten Stechlinsee-Grundschule. Jahrelang habe sich niemand beschwert, sagt Renate Kühl. Das änderte sich, als die „Milchzahn“-Leute auch die hinteren Räume nutzten. Sie brachten schallschluckende Heizungsverkleidungen und Vorhänge an, verlegten Teppichboden und ließen, wie Kühl sagt, die Kinder erst ab 9.30 Uhr in diese Zimmer. Denn dicht neben dem Bau gibt es Nachbarn. Einer fühlte sich vom Kinderlärm gestört und zog vor Gericht. Dem Tagesspiegel ließ er über seine Anwältin mitteilen, er bedauere sehr, dass keine außergerichtliche Einigung zustande gekommen sei. Er wehre sich nicht generell gegen den Betrieb der Kita, sondern nur gegen die Nutzung der hinteren Räume. Seit 2004 grenze der Kinderladen im Hochparterre direkt an seine Wohnung im Souterrain.

Das Amtgsgericht gab seiner Klage als Wohnungseigentümer gegen den Eigentümer der Kita-Räume statt. „Wir haben zum 1. Juni die Kündigung bekommen“, sagt die Kita-Leiterin. Der Betreiberverein hat Beschwerde eingelegt gegen das Urteil, der Termin beim Landgericht ist im November. Die Eltern und Stadträtin Schöttler hoffen, dass die Kita doch bis dahin bleiben kann – und dass die Richter das Lärmgutachten noch einmal kritisch prüfen. „Da wurden die Kinder nämlich aufgefordert, auf Kommando alle zusammen loszuschreien und gegen die Wand zu klopfen, das ist doch aber nicht repräsentativ.“

Schöttler sieht grundsätzlichen Handlungsbedarf. „Das Land Berlin muss dringend seine Lärmschutzverordnung ändern. Die Stimmen und Geräusche von Kindern dürfen nicht länger mit Auto- und Industrielärm gleichgestellt werden.“ Da an- und abschwellender Lärm als störender gilt als gleichbleibende Phonwerte, an die sich das Ohr gewöhnt, werde das Kreischen von Kindern schlimmer bewertet als das einer Kreissäge, kritisiert Holger Hofmann vom Referat Spielraum beim Kinderhilfswerk. In Hamburg und in München aber gibt es ähnliche Fälle: Dort mussten Kindergärten nach Beschwerden von Nachbarn auch geschlossen werden. „Wir suchen jetzt neue Räume“, sagt Renate Kühl. „Aber eine Kita will ja kein Vermieter.“ In einigen Berliner Bezirken, oft in bürgerlichen Gegenden, haben Ämter nach Protesten Schließzeiten für Kinderspielplätze und Bolzplätze eingeführt. Bei Neubauten wird schalldämmendes Plastik benutzt, damit Ballgitter nicht scheppern.

Auch Anwohner von Fußball- und Bolzplätzen beschweren sich häufig über Jubel und Geschrei bei den Spielen. Die Plätze sind meist nach dem Krieg in Bombenlücken entstanden, also mitten im Wohngebiet. „Natürlich versuchen unsere Vereine, auf die Zuschauer einzuwirken, damit sie sich vor und nach Partien im Zaum halten“, sagt Bernd Schultz, Präsident des Berliner Fußballverbandes. Doch Ballgeräusche und Anfeuerungsrufe gehörten nun mal zum Spiel, argumentieren Fußballvereine.

Jugendstadträtin Schöttler hat bei den Kinderlärm-Klagen festgestellt, dass vor allem neu zugezogene Mieter sich beschweren. „Ich appelliere an die Menschen, sich ihr Wohnumfeld in einer Großstadt anzusehen, bevor sie den Mietvertrag unterschreiben“, sagt sie. In Friedrichshain zieht demnächst eine Familie mit zwei Kindern aus, nachdem die Nachbarn unter ihr sich beim Ordnungsamt beschwert haben. Holger Hofmann befüchtet, „dass Entwicklungschancen von Kindern in Berlin beeinträchtigt werden, wenn sich der Trend zur Intoleranz fortsetzt“. Doch Kinder müssten zur Entwicklung eines gesunden Selbstwert- und Körpergefühls auch mal laut streiten und ungestört spielen dürfen.

Infos zum Kinderspiel im Internet:

www.dkhw.de

Annette Kögel

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