zum Hauptinhalt
Von wegen: So’n Bart! In Armin Petras’ Bearbeitung der alten chinesischen Kreidekreis-Fabel streiten sich zwei Frauen um ein Kind – in dieser Probenszene geben die jungen Schauspieler die Richter. Das Stück hat am 7. Februar Premiere am Grips-Theater.

© Sebastian Dudey

Kindertheater, Berlins wahre Volksbühnen: Grips und Co: Klein oder nicht klein?

Kinder- und Jugendtheater sind gar keine richtigen Theater? Völlig falsch! In Berlin zeigen fünf Häuser teils seit Jahrzehnten, dass sie die wahren Volksbühnen sind: immer mit dem Ohr an der Straße. Das ist nicht nur für den Nachwuchs interessant.

Eine Geschichte wie diese muss einfach mit ihm beginnen. Der Mann, der das Kindertheater neu erfunden hat, sitzt im ersten Stock seines Büros am Hansaplatz. Volker Ludwig, 77, wallendes graues Seitenhaar, hellwacher Blick, erzählt, wie sein Klassiker „Max und Milli“ 1978 entstanden ist. „Ich fuhr in die Ferien und musste ein Stück für Menschen ab fünf schreiben – was das Schwerste ist.“ Er fragte sich: Welche Situation kennen alle Kinder? „Sollen schlafen gehen und wollen nicht.“ Zack, die ersten zehn Minuten fertig. Was noch? „Ein Junge hat eine kleine Schwester, die frecher und mutiger ist als er.“ Prima, zwanzig Minuten voll.

„Ich bin kein guter Dramatiker, ich komme ja vom Kabarett“, lächelt Ludwig. Aber mit pointierten Szenen einen Nerv zu treffen, darin macht ihm keiner was vor. Er hat Max und Milli dann auf den Spielplatz geschickt, wo sie einem Angeberjungen begegnen, der eigentlich nur einsam ist und Freunde sucht. Berliner Alltag. Und vielleicht wurde das Stück, das Ludwig für sein Grips-Theater schrieb, gerade deshalb ein Exportschlager. Sogar das indische Fernsehen berichtete 1986 von der dortigen Premiere. „Da war das Stück eine Revolution“, sagt er. „Zwei Brahmanen-Kinder spielen mit einem aus der zweituntersten Kaste!“ In der Realität undenkbar, auch heute noch. Doch offenbar war da etwas derartig Lebenssattes an der Vorlage, dass die auch vor Landes- und Mentalitätsgrenzen nicht haltmachte.

Dass Berlin bis heute eine Hochburg des Kindertheaters ist, hat allerdings längst nicht nur mit solchen Exportschlagern zu tun. In der Stadt gibt es rund hundert Häuser, Gruppen und Künstler, die für Kinder und Jugendliche Theater machen. Mit Menschen, Puppen und Objekten. Die Zahl schätzt Gunnar Güldner vom Jugendkulturservice (JKS), der im Auftrag und mit Unterstützung des Senats für Bildung, Jugend und Wissenschaft den Besuch von Schulklassen und Kitagruppen mit 1,50 Euro pro Kind fördert. Rund 290.000 Besuche kamen 2013, 90 Kinder- und Jugendtheater sind beim JKS für das Verfahren registriert.

Die wichtigsten Häuser, die in Berlin Menschentheater für Kinder und Jugendliche machen, das Grips, die Parkaue, Atze, Strahl und das Theater o. N., unterscheiden sich zwar ästhetisch. Eins aber haben sie gemeinsam: Sie schöpfen, wie einst Volker Ludwig für „Max und Milli“, aus der Realität ihrer Zuschauer. Mit Berlin als Resonanzboden. Ganz wie die Großen? Eben nicht. „Bürgerbühne“ ist ein Stichwort, das Stefan Fischer-Fels ins Gespräch bringt. Fischer-Fels ist seit 2011 Nachfolger von Volker Ludwig als künstlerischer Leiter des Grips. Deutschlandweit haben viele Stadttheater Gruppen aus Laien, die artikulieren sollen, was den Menschen da draußen unter den Nägeln brennt. Meist ist das der verzweifelte Versuch, sich in die Stadt hineinzuvernetzen, weil das mit dem normalen Repertoire nicht gelingt. Keins der Berliner Kinder- und Jugendtheater in Berlin hätte das nötig. Weil sie alle – und darum soll es hier gehen – von Grund auf Stadt- und Volkstheater sind.

DAS KENNT JEDER

Erst mal schauen, ob die viel beschworene Nähe zum Publikum und seinem Alltag am Grips auch heute noch so gegeben ist. Zum Proberaum gelangt man über eine Treppe hinter der Bühne. Vorbei an Theatergeschichte. Die Parfümfläschchen auf dem Medizinschrank an der Wand: stammen von den Wilmersdorfer Witwen aus dem Kultmusical „Linie 1“. Weiter die Wendeltreppe hoch, vorbei an einem Kleiderständer. Der Kittel mit dem aufgenähten Judenstern: ist aus dem Stück „Ab heute heißt du Sara“. Oben warten die Kinder, Mittagspause. Lotte ist zwölf, Flori „fast zwölf“, Hussein elf. Sie proben seit ein paar Wochen hier am Grips „Der Kreidekreis“, Regie führt Robert Neumann, auch Schauspieler am Haus. Die Kinder sitzen auf Pappwürfeln und lassen die Beine baumeln. Worum geht’s in dem Stück? „Um eine Geschichte aus dem alten China“, sagt Hussein. „Die hat auch Brecht mal geschrieben, meine Schwester hat davon ein Trauma, weil sie das in der Schule lesen musste und blöd fand“, sagt Flori. Einleuchtend. „Es geht um Kinder im Krankenhaus, die ein Stück für einen Jungen spielen, der Geburtstag hat“, erklärt Hussein weiter. „Und darum, dass seine Mutter so fürsorglich ist“, sagt Flori. Und, hat das mit eurem Leben zu tun? „Na ja“, überlegt Flori, „meine Mutter ist vielleicht nicht so, aber es gibt halt immer Probleme mit Eltern.“

Viel Grips. 2011 übergab Volker Ludwig (rechts) die künstlerische Leitung des Theaters an Stefan Fischer-Fels (links).
Viel Grips. 2011 übergab Volker Ludwig (rechts) die künstlerische Leitung des Theaters an Stefan Fischer-Fels (links).

© dpa

Im Februar werden die jungen Schauspieler mit dem „Kreidekreis“, den der Dramatiker Armin Petras vom Dichter Klabund abgeschaut und in die Gegenwart verpflanzt hat, auf der Bühne stehen. Zeit für eine wichtige Frage: Was gefällt euch am Grips? „Dass die sich hier für Kinder einsetzen“, sagt Flori. „Ich bin auch bei der Fahrraddemo für Kinderrechte mitgefahren, da liefen die ganzen Grips-Lieder, ,Wir sind Kinder einer Erde‘ und so.“ Dass die Stücke „so wahr“ sind, findet Lotte. „Bei ,Linie1‘, diese Stationen, das ist typisch. Das kennt jeder, der aus Berlin kommt!“

1000 LEHRER AUF DER LISTE

So, wie die Kinder schnell auf Klassiker zu sprechen kommen, spricht auch Stefan Fischer-Fels zunächst von den „drei Säulenheiligen“ des Grips. „Ab heute heißt du Sara“, das Jugenddrama über die Nazizeit in Berlin, „Eine linke Geschichte“, diese Revue über die West-Berliner Studentenbewegung – und eben das U-Bahn-Musical „Linie 1“. „Alles Stadtgeschichten“, sagt der künstlerische Leiter und betont gleich, dass auch heute Stücke dicht am Leben entstehen. „Fast jede unserer Inszenierungen fußt auf Recherchen in Berlin.“ Für den „Kreidekreis“, diese im Krankenhaus angesiedelte Fabel über Erwachsene, die ihre Kinder nicht loslassen können, sind sie in Kliniken gegangen. Sie sprechen vor jeder Produktion mit Psychologen, Lehrern, Schulklassen. „Wir haben an die 1000 Kontakte zu Lehrern, die wir anrufen können“, sagt Fischer-Fels.

Auf der Bühne braucht es dann für die Verortung keine Fototapeten. Volker Ludwigs „Pünktchen trifft Anton“ etwa spielt in einer Halfpipe – und ganz klar in Berlin. Die Themen dürfen global sein. „Aber die Frage ist, was sie mit Kindern in Moabit zu tun haben.“

Alltag und Fantasie

Wir müssen reden. Im Theater an der Parkaue gehören Publikumsgespräche dazu. Im Stück „Softgun“ hat Johannes Hendrik Langer (in Weiß) einen jugendlichen Schläger gespielt. Hier stellt er sich den Fragen der Zuschauer.
Wir müssen reden. Im Theater an der Parkaue gehören Publikumsgespräche dazu. Im Stück „Softgun“ hat Johannes Hendrik Langer (in Weiß) einen jugendlichen Schläger gespielt. Hier stellt er sich den Fragen der Zuschauer.

© Sebastian Dudey

Szenenwechsel. Ein anderes Haus, die gleiche Frage: Wieso steckt so viel Stadt im Kinder- und Jugendtheater? Kay Wuschek zeigt auf ein Foto in seinem Büro an der Parkaue in Lichtenberg. „Da haben die Kinder Berlin gebaut.“ Eine Pappmaché-Landschaft mit Fernsehturm, schiefen Häusern und Windrädern, die Aufnahme stammt aus einem Workshop der Winterakademie. Die bringt jedes Jahr im Januar und Februar Künstler, Theaterpädagogen sowie Kinder und Jugendliche in experimentierfreudigen Forscherlaboren zusammen. Immer unter einem „Sagen wir …“-Titel. Das Foto ist von 2011: „Sagen wir, Berlin liegt am Meer“. Den Alex mit Windrädern vollstellen, das ist für Wuschek ein schönes Beispiel dafür, wie Kinder sich aus Alltag und Fantasie ihre Welt zusammenpuzzeln. In diesem Jahr, zum zehnjährigen Jubiläum der Akademie, lautet das Motto: „Sagen wir, wir haben recht“.

Der Intendant des „jungen Staatstheaters“ mit dem Flugzeug im Logo hat die Bühne 2005 übernommen. Da hieß sie noch „Carrousel Theater an der Parkaue“, aber das konnte kaum einer richtig schreiben. Wuschek, geboren in Aschersleben, nennt sich selbst einen Dialektiker. „Mich interessiert das Raue, Gebrochene, Groteske, Überzogene.“ Dafür steht auch sein Haus. „Wir leben ja nicht in einer romantischen Stadt mit hübschen Fachwerkhäusern, wo man denkt, gleich werden gegenüber die Betten ausgeschüttelt. Berlin tobt, bröselt, hechelt, ist nervös, neurotisch, exzentrisch, überbordend, beleidigend – immer ein Abenteuer.“

Wuschek übernahm das Theater mit den drei Sälen hoch verschuldet, als Lichtenberg noch No-go-Area war, wie eine Zeitung damals schrieb. Seit er Intendant an der Parkaue ist, hat sich das Haus extrem geöffnet. In die Stadt. Vor allem auch gegenüber der freien Szene. Vorbei die Zeiten, „als die Herausforderung darin bestand, das Weihnachtsmärchen aufzubrechen“, sagt er. Wuschek hat den Dokumentartheater-Spezialisten Hans-Werner Kroesinger für eine Inszenierung über die Kindertransporte im Zweiten Weltkrieg geholt. Und die raubeinige Performer-Truppe Showcase Beat le Mot für den „Räuber Hotzenplotz“ – noch immer ein Renner im Programm.

Großer Moment, findet die neue Oberspielleiterin Katrin Hentschel, seit vergangenem Jahr an der Parkaue: wie die Showcase-Jungs zu Beginn vors junge Publikum treten. „Na, die Geschichte kennt ihr ja wohl alle, brauchen wir euch nicht zu erzählen, oder?“ Und dann wird sie eben doch erzählt. Bloß anders. Kein althergebrachtes Erzählen von vorne nach hinten, kein Ehrfurcht gebietendes Frontaltheater. Sondern: eine postdramatische Party für Kinder, sprunghaft, unchronologisch, mit flackernden Szenen. Es gibt keine Spielart des Erwachsenentheaters, die nicht bereits an der Parkaue ausprobiert worden wäre. Dabei gehen auch deren Dramaturgen und Pädagogen, ebenso wie die des Grips-Theaters, selbstverständlich in die Schulen. Fühlen dort ihrem Publikum auf den Zahn. Zumeist mit Erfolg. „Kinder haben kein Problem mit anderen Ästhetiken“, ist Hentschel überzeugt, „die verlaufen sich doch selbst wie wild, wenn sie Geschichten erzählen.“

DIVERSE COMMUNITYS

Dass das Kinder- und Jugendtheater mit seiner jungen Klientel sogar Avantgarde sein kann, daran scheint an der Parkaue niemand zu zweifeln: „Wir haben demnächst den digitalen Kindergarten, ich kenne noch die Wählscheibe“, sagt Kay Wuschek. „Wir müssen deshalb der Luxus der Gesellschaft sein, der erforscht: Wie sieht Geschichtenerzählen morgen und übermorgen aus?“

Das sind Fragen, die auch Stefan Fischer-Fels umtreiben. In der Präambel des Grips ist noch der Satz verankert, das Haus sei „Mutmach-Theater, sieht die Welt als veränderbar“. Aber vielleicht ist das heute nicht mehr so einfach. Nicht wie in den 70ern, als Volker Ludwig aus dem Geist des linksradikalen Reichskabaretts sein antiautoritäres Theater schuf. In einer Zeit, als es selbstverständlich war, „dass im Laden erst alle Erwachsenen bedient wurden und dann die Kinder“, wie Ludwig erzählt. Auf der Bühne ging es damals um den Putzfimmel von Müttern, um Primitivpaukerei in der Schule. Klar, die Probleme seien heute andere, sagt er. „Aber unser Job ist der gleiche.“ Er ist nur schwerer geworden, auch aufgrund der größeren Zahl verschiedener Communitys. Am Grips haben sie Kontakt zur Poetry-Slam-Szene geknüpft. Zu Graswurzel-Bewegungen wie dem Urban Gardening. Die Refugees in Berlin sind ein Thema, das Stefan Fischer-Fels heute beschäftigt. Und es müsste ein Stück her, findet der, das von jungen Männern erzählt, die es für Pop halten, in den Dschihad zu ziehen. „Grips 2.0 bedeutet: Mut zur Komplexität.“

ALLE FÜR EINEN

Zu den erfreulichen Dingen in Zeiten wachsender Komplexität gehört, dass sich deren Be- und Verarbeitung im Kinder- und Jugendtheater heute auf mehr Schultern verteilt als noch in den 70ern. Wobei gerade die Biografien von Außenseitern und Quereinsteigern dem Kindertheater, mehr als anderen Genres, neue Impulse gegeben haben. Thomas Sutter etwa hatte mit Theater nichts am Hut, als das Grips damals loslegte. Er ist in Kreuzberg aufgewachsen, Behala-Gelände, Köpenicker Ecke Pückler, wo die Senatsreserven gelagert wurden, Kohlen, Kies, Konserven, falls die Russen mal wieder die Versorgung abdrehen. Sutter hat als Erzieher im Kinderladen angefangen, war bei der Besetzung der Mariannenstraße 48 dabei, echter Kreuzberger seiner Zeit.

Die Geburtsstunde des Theaters Atze war die Geburt seiner Tochter. „Ich habe ein paar Kinderlieder für sie geschrieben, weil ich nicht wollte, dass sie mit ,Hänschen klein‘ groß wird“, sagt Sutter. Bei einem Liederwettbewerb des Kinderschutzbundes gewann er damit den 2. Platz und wurde eingeladen, im Radio aufzutreten, 1985 war das.

Seine Band Atze, Berliner Slang für „großer Bruder“, begann dann regelmäßig in der Schatzinsel zu spielen, einem Jugendfreizeitladen am Schlesischen Tor. Zu den Liederprogrammen gab es bald kleine szenische Übergänge. Irgendwann schrieb Sutter sein erstes Stück, „Steffi und der Schneemann“, heute noch im Programm.

1999 war es dennoch so weit, dass Sutter sein bis dahin durch Berlin nomadisierendes Theater auflösen wollte, weil ihm die Perspektive fehlte – er wollte sein eigenes Haus. Es gab eine Demo vor der Kulturverwaltung in der Brunnenstraße, Volker Ludwig erklärte sich solidarisch und lud Sutters Truppe ins Grips ein.

Wilde Lieder. Lang vagabundierte das Atze Musiktheater durch Berlin, jetzt ist es in Wedding zu Hause. Geprobt wird aber in Tempelhof, hier gerade für die Inszenierung von Tomi Ungerers "Die drei Räuber".
Wilde Lieder. Lang vagabundierte das Atze Musiktheater durch Berlin, jetzt ist es in Wedding zu Hause. Geprobt wird aber in Tempelhof, hier gerade für die Inszenierung von Tomi Ungerers "Die drei Räuber".

© Sebastian Dudey

Konkurrenz, das lässt sich am Beispiel Atze – seit 2002 fest beheimatet im Max-Beckmann-Saal in Wedding – gut illustrieren, bestimmt nicht das Klima unter den Berliner Kinder- und Jugendtheatern. Zumindest nicht mehr. Zwischen Parkaue, Grips, Atze, Strahl und o. N. herrscht Solidarität bis Freundschaft, man tauscht Schauspieler und Ideen, sitzt in gemeinsamen Arbeitskreisen. Auch das ist ein Unterschied zu den Großen: Es gibt kein Gegeneinander. Man zieht kulturpolitisch an einem Strang.

ES LIEGT AM STÜCK

Die Frage, die da noch bleibt: Zieht denn auch das Publikum weiter mit? Oder hat sich das nicht schon in ganz andere, digitale Sphären verabschiedet, in denen man sie mit dem eher klassischen Programm des Atze, etwa der Musiker-Bio „Bach“ oder der Kinderbuch-Adaption „Eine Woche voller Samstage“, längst nicht mehr erreicht? „Natürlich sind die Kinder heute anders drauf als vor 20 Jahren. Aber wenn die Story dramaturgisch stimmt, bleiben sie dran“, weiß Thomas Sutter. „Hart am Wind segeln, den roten Faden nicht verlieren“ – das ist seine Losung. Die Kinder jederzeit wissen lassen, dass sie gemeint sind. Digital natives, die nicht mehr zuhören können? Glaubt er nicht. Genauso wenig übrigens Volker Ludwig: „Wenn es unruhig wird, fehlt die Spannung auf der Bühne.“ Der größte Fehler, sagt wiederum Kay Wuschek, sei es, „den Kinder und Jugendlichen das Gefühl zu vermitteln: Die Geschichte kann auch ohne euch stattfinden“.

Notfalls muss man sie eben wieder einfangen. Parkaue, ein Mittwoch im Januar, zehn Uhr morgens. Vor einer Schulklasse läuft die 75. Vorstellung des Stücks „Softgun“ vom Schweden Mats Kjelbye, ein Solo über Jugendgewalt. Der Schauspieler Johannes Hendrik Langer spielt Ed, einen Jungen, der zugeschlagen hat, bis die Rippen brachen – der aber selbst eine arme Sau ist. 70 Minuten muss er die Kids damit bei Laune halten. Was funktioniert. Und als in der vorderen Reihe zwei Schülerinnen zu tuscheln beginnen, genügt ein kurzer Rüffel, für den Langer nicht mal richtig aus der Rolle steigen muss: „Mädels, es geht noch ’ne Viertelstunde, schafft ihr das?“ Schaffen sie.

Messerstecherei!

Es kann auch mal knallen. Wolfgang Stüßel, Leiter des Theaters Strahl, weiß, dass gerade schwere Themen wie Drogen und Fremdenfeindlichkeit zu Konflikten im Publikum führen können.
Es kann auch mal knallen. Wolfgang Stüßel, Leiter des Theaters Strahl, weiß, dass gerade schwere Themen wie Drogen und Fremdenfeindlichkeit zu Konflikten im Publikum führen können.

© Mike Wolff

Es kann aber auch knallen im Publikum – damit auf zur vorletzten Station unserer Theaterreise. Dort wie anderswo gilt: Berliner Wirklichkeit ist kein Bettenschütteln. Das Theater Strahl hat kürzlich wieder so einen Fall erlebt, der grelle Schlagzeilen produziert hat: Messerstecherei! Vorstellungsabbruch! Tatsächlich, erzählt Leiter Wolfgang Stüßel, gerieten im Admiralspalast, wo sie mit dem Maskenbeatboxtheater „Klasse Tour“ spielen, eine Schulklasse aus Wedding und eine aus Eberswalde aneinander. Ja, es war ein Messer im Spiel. Aber die Vorstellung konnte weitergehen. Und wer weiß, sagt Stüßel, wer den Streit begonnen hat, welche Worte vorher gefallen sind. „Scheiß-Ausländer“ hier, „Scheiß-Nazis“ dort? Wäre nicht das erste Mal. Haben sie schon nach der Wende erlebt, als sie im Jugendzentrum FEZ gastierten und im Publikum Wedding auf Marzahn traf. Gerade hat Strahl in der Hauptspielstätte, der Weißen Rose in Schöneberg, ein Stück mit dem Titel „Främmt“ im Programm, es geht um Rassismus gegen Roma. Ein Schauspieler erzählt darin, dass ein Rom von Rechten angezündet wurde. „Vorgestern rief einer aus dem Publikum an der Stelle: Richtig so, und dich sollte man auch anstecken!“, sagt Stüßel. „Die Stücke spiegeln den Zündstoff, der in Berlin vorhanden ist.“

Stadtgesellschaft in Vielfalt abbilden – das ist auch der Anspruch der meisten „Erwachsenen-Theater“, nur wenigen gelingt es wie dem Gorki, das jetzt Vorbild ist für seine Diversität. „Allerdings“, sagt Stüßel, „hatten wir vor zwölf Jahren schon ein multikulturelles Ensemble.“ Nurkan Erpulat zum Beispiel, Hausregisseur am Gorki und Schöpfer des Megahits „Verrücktes Blut“, stand als junger Mann, frisch aus der Istanbuler Boheme nach Berlin gekommen, bei Strahl auf der Bühne. Im Stück „Dirty Dishes“ über illegal beschäftigte Asylsuchende.

Stüßel ist in der West-Berliner Jugendzentrumsbewegung sozialisiert. Man merkt es spätestens hier: Die Geschichte des hiesigen Kinder- und Jugendtheaters ist, um es mit dem Titel des Grips-Stücks zu sagen, „eine linke Geschichte“. 1987 hat Stüßel Strahl gegründet, mit Aufklärungsimpuls. „Dreck am Stecken“ hieß das erste Stück, es ging um Aids. Auch er und seine Leute haben ihre Geschichten immer in der Stadt gefunden. „Wilder Panther, Keks!“ entstand nach Klagen von Lehrern über den Kiffkonsum ihrer Schüler. „Black Out“, eine Othello-Überschreibung, nach Auseinandersetzungen, die Schulklassen mit Neonazis hatten. „Was gesellschaftlich passiert“, sagt Stüßel und bestätigt einmal mehr den Ansatz, den im Prinzip alle Kinder- und Jugendtheater teilen, ,,fließt bei uns ein.“

WAS IST DIE ARBEIT WERT?

Was derweil nicht immer so fließt, wie es vielleicht sollte, ist das Geld. Die Parkaue hat als Staatstheater 5,4 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung, das Grips 2,8, Atze bekommt 690.000, Strahl 475.000 und das Theater o. N. 70.000 Euro. In jedem Fall reicht es nicht. Der Parkaue werden die fälligen Tariferhöhungen nicht mehr voll ausgeglichen. Dem Grips fehlen seit Jahren mindestens 50.000 Euro pro Spielzeit. Atze kann seinen Schauspielern nicht mehr als 120 Euro brutto am Abend bezahlen. Strahl spielt ebenfalls am Limit und kämpft einen zähen Kampf, endlich eine eigene Spielstätte zu bekommen, die „Halle Ostkreuz“. Der Umbau würde 4,9 Millionen kosten. Zu viel, wie manch ein Kulturpolitiker meint.

Sich selbst finden. Das Theater o. N. arbeitet sehr erfolgreich mit Jugendlichen aus Hellersdorf. Hier proben Rania (rechts), Lara (sitzend), René und Pia den Vortrag ihres „Such-Tagebuchs“, in dem sie festhalten, was sie in ihrem Leben finden wollen.
Sich selbst finden. Das Theater o. N. arbeitet sehr erfolgreich mit Jugendlichen aus Hellersdorf. Hier proben Rania (rechts), Lara (sitzend), René und Pia den Vortrag ihres „Such-Tagebuchs“, in dem sie festhalten, was sie in ihrem Leben finden wollen.

© Sebastian Dudey

Dabei kann man den Wert dieser Arbeit gar nicht beziffern. Ein trüber Dezembermorgen in Hellersdorf. „Eastend“ heißt das Jugendzentrum an der Tangermünder Straße, trostlose Betongegend. Fünf Jugendliche stehen hier vor einer Schulklasse auf der Bühne. Lara, Pia, Rania, René und Ismael. Die Stimmung ist ein bisschen angespannt, Ismael hat gestern die Generalprobe geschwänzt. Das Stück heißt: „Man sollte wissen, wonach man sucht“.

Auf der Bühne tragen sie Auszüge aus dem Such-Tagebuch vor, das sie während der Proben geführt haben. November 2014, Frage: „Wonach suchst du gerade in deinem Leben?“ Lara: „Ich bin gerade am Ausfiltern meiner Freunde. Ich versuche herauszubekommen, wer zu meinen engsten Freunden gehört und wer sich nur oberflächlich dazwischengemogelt hat.“ Pia: „Ich hab keinen Bock mehr, diese Frage zu beantworten.“

DIREKT, ENERGIEGELADEN, WAHR

Jugendliche denken über ihr eigenes Leben nach – gemeinsam mit dem Theater o. N. mit Sitz an der Kollwitzstraße in Prenzlauer Berg. Unter dem Namen Zinnober vormals das erste freie Theater der DDR. Seit einigen Jahren hat es zwei Programmschwerpunkte, mit beiden war es Pionier. Theater für die Jüngsten, für Menschen schon ab zwei. Und eben Theater für und mit Kids aus Hellersdorf. Das Projekt besteht seit vier Jahren, ermöglicht durch Geldzuwendungen einer Stiftung. Das erste Stück entstand an einer Hellersdorfer Grundschule, wo sich das o.N.-Team mitten in Berlin in einer anderen Welt wiederfand. Wo als morgendliches Ritual im Sekretariat die Liste mit säumigen Schülern abtelefoniert wurde, deren Eltern nicht selten erst geweckt werden mussten.

Das Ziel ist, die Kids aus ihrer Verschlossenheit zu holen und zum Spielen zu bewegen. Eine Herkulesaufgabe. „Die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, müssen oft sehr mühsam angefüttert werden“, sagt Regisseurin Cindy Ehrlichmann, die zusammen mit Dramaturgin Dagmar Domrös das o. N. leitet. „Wenn man sie fragt, was sie interessiert, kommt erst mal nichts. Das ist wie ein leeres weißes Blatt. Das kann aber gefüllt werden.“ „Es gibt keine Gewohnheit, sich auszudrücken, zu diskutieren. Was sie bewegt, werden sie selten gefragt“, sagt Domrös.

Die Stücke aus dem Leben der jungen Schauspieler sind künstlerisch keine Sternstunden. Aber „Hell erzählen“ von 2013 zum Beispiel war direkt, energiegeladen, mitreißend wahr. Die Produktionen kommen stets in Hellersdorf und Prenzlauer Berg zur Premiere. Kontrastprogramm für die auf der Bühne.

Im Januar, kurz vor der ersten Aufführung an der Kollwitzstraße. Ein Blick in die Welt, die die Kinder- und Jugendtheater Berlins nicht nur zu erreichen, sondern auch einzubeziehen versuchen. Ismael ist endgültig ausgestiegen, sie werden ihn wohl ersetzen müssen. Die anderen haben gerade ihre Generalprobe hinter sich. Rania, 13, tanzt, wenn sie nicht bei o. N. spielt oder Schule hat. René, 16, sagt, Theater sei sein einziges Hobby, „sonst hab ich sehr viel Langeweile“. Die 14-jährige Pia singt im Schulchor, macht Karate und verbringt die meiste Zeit bei ihren Großeltern. Und Lara, 13, will vielleicht noch mit Kickboxen anfangen. Sie finden Prenzlauer Berg ganz okay, „bisschen langweilig“, sagt Pia.

Warum macht ihr Theater?

Rania: „Weiß ich selbst nicht so genau. Die waren bei uns in der Schule und haben das Projekt vorgestellt.“

Pia: „Ich hatte schon in der Grundschule Theater als Fach, hab’ Rotkäppchen gespielt. Vor Publikum zu stehen, fand ich cool.“

René sagt, dass er später mal Schauspieler werden will. Vielleicht.

Das Gespräch sprudelt nicht gerade, Lara tippt unterm Tisch auf ihrem Handy. Ganz anders als auf der Bühne, wo sie voll da ist.

Dagmar Domrös betont: „Mir würde etwas fehlen, wenn diese Arbeit enden würde. Auch wenn man sich manchmal fragt, ob sich der Kraftakt für die wenigen Jugendlichen lohnt.“

Und Cindy Ehrlichmann sagt: „Diejenigen, die sich wirklich entschließen, bleiben auch lange dabei.“ Außerdem, lächelt sie, seien die Jugendlichen „echt engagierte Theatergänger“ geworden. Oft an der Parkaue zum Beispiel. Gucken, wie’s die anderen machen.

Volker Ludwig in seinem Büro sagt:

„Es gibt ja immer Theater, die in die Sinnkrise kommen. Wir nicht.“

Dieser Text erschien erstmals gedruckt in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false