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Berlin: "Kindertransport - In eine fremde Welt": Das Schweigen der Schüler

"Sarah heißt du", sagt die alte Dame staunend zu dem Mädchen. "Sarah klingt für mich merkwürdig.

"Sarah heißt du", sagt die alte Dame staunend zu dem Mädchen. "Sarah klingt für mich merkwürdig. Wir vom Kindertransport mussten ja alle so heißen mit zweitem Namen." Bertha Leverton versucht, im Saal Nummer vier des Cine Star-Kinos mit 100 Berliner Schülern ins Gespräch zu kommen. Gerade haben die Kinder aus Kaulsdorf und aus Dahlem den zweistündigen oscarprämierten Dokumentarfilm über ihr Schicksal und das 10 000 weiterer jüdischer Kinder aus Deutschland und Österreich gesehen. "Kindertransport - In eine fremde Welt" erzählt von der Rettung der Kinder, die England 1938 und 1939 aufnahm. Bertha und zwei Geschwister waren dabei.

Einige Minuten nach dem Film gibt es keine Fragen an Mrs. Leverton. Die 78-jährige Zeitzeugin kennt sich aus mit den Beklemmungen 15-Jähriger. Sie lächelt, neigt den Kopf mit den sorgfältig frisierten rotblonden Löckchen und erzählt noch ein bisschen, bis vielleicht das Eis bricht. Aber das ist kein Smalltalk, den Bertha Leverton bestimmt in mehr als sechzig britischen Jahren gelernt hat ... Die Überlebenden des Kindertransports, die sie vor 12 Jahren zum ersten Mal in London wieder zusammenbrachte, nennen sich untereinander noch immer Kinder. Ihre Eltern haben die meisten nie wiedergesehen. "Das war kein gewöhnliches Sterben, da kann man hundert Jahre alt werden und sich niemals damit abfinden", sagt Mrs. Leverton. Aber heute könnten deutsche Mädchen wieder Sarah heißen, da sich die Welt Gott sei Dank so grundlegend geändert habe. "Sonst wäre ich nicht hergekommen."

Als Bertha Leverton die Schüler auffordert, nicht wegzuschauen, wenn Menschen anderer Religion oder Hautfarbe verfolgt werden, regt sich etwas im Publikum. "Aber die Deutschen hatten doch auch Angst", sagt ein Mädchen. Sicher, antwortet Mrs. Leverton, aber es war auch keiner da, der gesagt hätte, das darf doch nicht sein. Die jüdischen Kinder seien von einen Tag auf den anderen ausgegrenzt worden. Die Nachbarskinder in München durften nicht mehr mit Bertha und ihren beiden kleineren Geschwistern spielen. Einmal sah sie deutsche Tierschützer im Fernsehen, die für das Recht der Hunde auf ein Schälchen Wasser bei Bahnfahrten kämpften. Aber Männer, Frauen und Kinder ließ man vier Tage lang ohne einen Tropfen Wasser im Viehwagon nach Auschwitz fahren. Niemand hat protestiert. Ein Junge ruft dazwischen: "Aber heute wird man dafür auch nicht mehr umgebracht."

Dann die Frage, ob sich eine Geschichte wie die der jüdischen Kinder und ihrer Eltern in Deutschland wiederholen könnte. Eher nicht, glaubt ein Mädchen, heute sei das Ausland viel wachsamer. "Aber wenn man uns von klein auf erzählen würde, die Juden sind alle schlecht, dann würden wir nicht anders handeln." Eine Schulkameradin widerspricht. Der Holocaust könnte sich nicht wiederholen, weil man heute so viel darüber wisse. Aber Rechtsradikale gibt es, sagt die Journalistin, die die Veranstaltung moderiert. Bertha Leverton hält dagegen, dass in Deutschland kaum noch Juden lebten, "die sie plagen können". Wieder eine Stimme aus einer der hinteren Reihen, wo die meisten Jungen sitzen: "Dafür haben sie die Ausländer, jetzt sind wir dran."

Im Laufe einer halben Stunde hat sich das Gespräch mit Bertha Leverton prächtig entwickelt. An Ende stehen die Kinder um sie herum, lassen sich mitgebrachte Kinderfotos zeigen. Die alte Dame deutet gerührt auf drei kleine Mädchen mit Puppen in den Armen und Köfferchen neben sich auf dem Boden. Der Tag des Kindertransports von irgendeinem Bahnhof in Deutschland. "Man kann doch gar nicht deutscher aussehen", sagt Mrs. Leverton kopfschüttelnd. "Warum sind Sie zurückgekommen?" will ein Junge am Ende noch wissen. "Ich bin nicht zurückgekommen", antwortet die Zeitzeugin. "Ich bin nur hier, um mit euch zu reden."

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