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Kindesmisshandlung: Schrecken in der Familie

In Berlin gibt es die meisten Fälle von Kindesmisshandlung. Das hat soziale Gründe - und statistische.

In Berlin werden bundesweit die meisten Fälle von Kindesmisshandlung verzeichnet. 2006 erfasste die Polizei 563 Fälle. Zum Vergleich: In Hamburg waren es gerade einmal 50 Fälle. Nach Angaben des Bundeskriminalamts wurde damit fast jede fünfte der bundesweit 3131 Taten in Berlin registriert. Dennoch sind Berliner Eltern nicht unbedingt gewalttätiger als Hamburger, sagen Experten, sondern: Die Berliner Polizei sieht genauer hin – und die Menschen zeigen auch mehr an. Beim Landeskriminalamt gibt es seit Jahren ein bundesweit einmaliges Fachkommissariat für Kinderschutz. In anderen Städten gingen viele „Misshandlungen“ als Körperverletzungen in der Statistik unter, und Vernachlässigungen würden anderswo teilweise gar nicht in der Polizeistatistik erfasst. In Berlin gehen alle Fälle zum LKA 125. Die Chefin des Kommissariats, Gina Graichen, hat bundesweite Bekanntheit, am Sonntag ist sie als Expertin in der Talkshow „Anne Will“.

Die bekannt gewordenen absoluten Zahlen bei Misshandlungen steigen seit Jahren. In Berlin haben sie sich in nur fünf Jahren mehr als verdoppelt. Dies liege an der größeren Sensibilität in der Bevölkerung, „es wird nicht mehr weggehört, wenn ein Kind vor Schmerzen schreit“, sagt ein Beamter. Auch Lehrer und Erzieher meldeten sich häufiger als früher mit Hinweisen. Das Kommissariat nimmt unter Telefon 4664 912 555 auch anonyme Hinweise entgegen – dieses Angebot wird genutzt.

Wenn Mütter und Väter ihren Kindern keine guten Eltern sind, dann sind die Ursachen dafür so vielschichtig wie die Fälle selbst. „Wir haben im Stadtstaatenvergleich herausgefunden, dass alle familienbelastenden Faktoren in Berlin am stärksten ausgeprägt sind“, sagt Elfi Witten, Sprecherin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und eine der Initiatorinnen des Netzwerkes Kinderschutz. „Zu den Faktoren gehören Allein-Erziehen, bildungsferne Sozialisation, Migrationshintergrund, psychische Krankheiten oder Alkoholabhängigkeit.“ Die Hilfen zur Erziehung seien zuletzt stark gekürzt worden – „nun werden die Folgen sichtbar“.

Die wirtschaftlichen Probleme seit der Maueröffnung wirkten sich nun aus, sagt Michael Piekara, Jugendhilfereferent der EJF-Lazarus Gesellschaft. „Und viele besser situierte Familien sind ins Umland gezogen.“ So ballten sich die Probleme in der Innenstadt. Nach Auskunft von Marion Thurley, leitende Mitarbeiterin im Jugendamt Neukölln, sind auch „wegen der Kürzungen beim Kinder- und Jugendgesundheitsdienst verlässliche Strukturen weggebrochen“. Den wenigen Sozialarbeiterinnen gelinge es nicht mehr, alle Familien mit Erstgeborenen zu besuchen. Zu den wirtschaftlichen Notlagen vieler Eltern kämen die psychischen. „Viele Mütter sind verzweifelt, depressiv, haben kein Selbstwertgefühl und keine Kraft, sich um die Kinder zu kümmern“, sagt Sigrid Richter-Unger von „Kind im Zentrum“. Vielfach seien auch sie selbst früher als Kinder vernachlässigt worden.

Elfi Witten fordert, Präventionsprojekte stärker zu finanzieren. Sigrid Richter-Unger weist darauf hin, dass vernachlässigten Kindern weiteres Unheil droht: Sie sehnten sich nach Zuneigung – und kämen leicht in die Fänge Pädophiler.

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