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Kindstötungen: Am toten Gleis

Wie verletzt ist der Osten? Erkundigungen in Brieskow-Finkenheerd, wo die neun getöteten Säuglinge gefunden wurden.

Brieskow-Finkenheerd (Der Tagesspiegel, 13.08.2005) - Der Bürgermeister von Brieskow-Finkenheerd ist 49 Jahre alt, seine Frau Karola 46. Ralf Theuer ist seit zehn, sie seit fünf Jahren ohne feste Arbeit. Die Art und Weise, wie das Ehepaar sich eingerichtet hat im Alltag, ist zunehmend von der Überzeugung bestimmt, dass sich daran auch nichts mehr ändern wird.

Jeden Mittag liefert ihnen die Arbeiterwohlfahrt pünktlich eine Mahlzeit im "Thermoessen-Kübel", die Portion für 3 Euro 50. War es früher deswegen nicht angebracht, zu kochen, weil für alles gesorgt war, damals vor der Wende, als sie noch unten in der Schule Reinigungskraft war und er "ökonomischer Leiter" beim "Kranbau", dann erscheint es den beiden heute erst recht als Zeitverschwendung, zu kochen. Wozu auch? Die drei Töchter sind aus dem Haus. Inzwischen kostet es die Theuers alle Kraft, ihr mühsam ausgeklügeltes System von diversen neben Hartz IV erlaubten Tätigkeiten am Laufen zu halten. "Leben kann man das auch nennen", sagt Ralf Theuer. Ein Leben im Schatten der Geschichte. Der Untergang der DDR hat ihn immerhin zum Bürgermeister des Dorfes mit seinen 2700 Einwohnern gemacht, aber irgendwie vermag seine hagere, von einer grauen Hose umschlotterte Gestalt das Amt nicht richtig auszufüllen, das an ihm ebenso provisorisch hängt wie seine zu weite Kleidung.

Nein, Sabine H. hat er nicht gekannt, so wenig "wie die meisten hier im Ort", doch mit jedem Tag, der seit dem entsetzlichen Fund von neun Säuglingsskeletten auf dem elterlichen Grundstück in der Finkenheerder Bahnhofstraße verging, wurde Bürgermeister Theuer als Zeuge glaubwürdiger und ostmäßig exotischer. In der sofort nach den Ereignissen einsetzenden Debatte um den Osten scheint es, als ließe sich aus der zusammengeflickten Existenz eines Mannes, der die 800 Euro Aufwandsentschädigung für sein Ehrenamt als ein Glück für sich empfinden muss, ableiten, wie man sich dort so fühlt. Ferner verdient er sich mit dem Betreiben der Klubgaststätte des SV Turbine ein Zubrot, um anschließend die verschwitzten Fußballtrikots zu waschen und das Feld zu kreiden für den erlaubten einen Euro Lohn die Stunde.

Ralf Theuer hat schnell verstanden, was seine Stimme wert ist, wenn es darum geht, den authentischen Kommentar des echten Ossis zu haben, während der Westen auf der Suche nach den Verantwortlichen für Gewalt zum wiederholten Male die Abgründe der Ostseele analysiert. Ein PDS-Mann und noch dazu arbeitslos - mindestens 35 Mal ist der Bürgermeister in den Medien, vom Mitteldeutschen Fernsehen bis zur "Superillu", zum Fall der Sabine H. befragt worden. Ebenso oft hat er versucht, der Anklage, in den zunehmend vorwurfsvolleren Fragen - Wie konnte es geschehen? Warum hat hier in Brieskow-Finkenheerd keiner was gemerkt? - mit dem Einwand entgegenzutreten, dass die Frau, die ihnen das angetan hat, eigentlich eine Fremde sei, die seit 22 Jahren woanders lebte. Ungeübt in dem Geschäft, sein Innerstes für die Öffentlichkeit nach außen zu kehren, sollte er davon berichten, wie ihm zumute war, als er am Montag, dem 1. August von der "Bild"-Zeitung erfuhr, was sich mitten unter ihnen ereignet hatte. Noch Stunden später habe er gezittert, schildert Theuer, als müsse er durch seine körperliche Reaktion bereits im Vorfeld widerlegen, was Brandenburgs Innenminister Schönbohm später behaupten wird, dass nach den Jahren der SED-Diktatur viele Menschen im Osten "teilnahmslos" seien, "verwahrlost und gewaltbereit".

Die rotweißen Flatterbänder bräuchte es nicht und auch nicht die beiden Einsatzwagen der Polizei, um das Elternhaus von Sabine H. an der Bahnhofstraße 22 zu schützen. Entsetzen und Verzweiflung über das Verbrechen legen eine unüberschreitbare Bannmeile um ein eher gewöhnliches Grundstück, dessen Garten wahlweise als gepflegt oder überwuchert beschrieben worden ist. Je nachdem, ob das Grauen über das, was sich so lange in ihm verbarg, gesteigert oder gemildert werden sollte. Wirklich bedrängend aber ist die überschießende Symbolik im Verhalten einer Frau, die offenbar keinen anderen Rat wusste, als ihre toten Kinder zurückzubringen, zur eigenen Mutter.

Es steht ja noch, aber es wird nie mehr das Anwesen sein, das die Dorfbewohner so lange kannten. Nicht einmal die DDR-Zeit hat vermocht, die Erinnerung an ein gutbürgerliches Leben, verziert von Blumen und Obstbäumen, so gründlich zu zerstören. Nun erst ist es für immer verloren, fügt der Landkarte des Dorfes eine weitere aufgegebene Fläche hinzu, zu viele Wüstungen sind darauf schon verzeichnet. Geblieben ist das "Mordhaus" jetzt mit meist heruntergelassenen Jalousien, verputzt in diesem unnachahmlichen DDR-Grau. Mit seiner vom Regen und der Zeit dunkel gebeizten Front könnte es im Jahr 2005 das meist fotografierte Motiv Brandenburgs sein. Auf der verzweifelten und wahrscheinlich fruchtlosen Suche nach möglichen Ursachen wurde jede der roten Geranien vor den Fenstern gezählt, jeder Zentimeter des Holzzauns einzeln vermessen. Jede Krume von der Spurensicherung umgedreht. Links wohnt die Mutter von Sabine H., rechts ihre elf Jahre ältere Schwester mit ihrem Lebensgefährten. Aber da war nichts, was das Unfassliche erklärte. Erst nachdem der Tross der Journalisten abgezogen war, wurde sichtbar, was sich hinter dem Grauen auftut, eine umfassende gähnende Leere.

Dieselbe Leere, die auch den Bürgermeister umgibt, sooft er aus dem Küchenfenster seiner Eigentumswohnung sieht, 1990 günstig erworben von derselben Treuhand, die auch seinen Arbeitsplatz beim Kranbau schräg gegenüber abwickelte. Der kleine Wohnblock unmittelbar am Waldrand ist frisch getüncht in einem unangenehm grellen Mintton. Es ist wie ein Fluch. Seit der im Ukrainischen Saporoschje zum Kranbauingenieur ausgebildete Theuer 1984 nach Finkenheerd in den Oderbruch abkommandiert wurde, ist die Kulisse immer dieselbe geblieben. 500 Quadratmeter Land, ein ganzes Leben. Wie hätte er glauben sollen, dass es damit irgendwann einmal zu Ende gehen würde? Wie hätte er sich wappnen können? Bis zu 300 Schlosser, Schweißer, Dreher, Bohrer und Techniker produzierten jährlich bis zu 200 Raupendrehkräne mit Auslegersystem. Unmittelbar vor seinem Haus das lang gestreckte Gebäude des einstigen Landambulatoriums, wo zu alten Zeiten, die Bürger kostenlos verarztet wurden, jetzt hat Bürgermeister Theuer dort sein Büro. Sprechzeit einmal die Woche drei Stunden, die Bestuhlung in original gelb gemustertem Plüsch. Beim ersten Besuch entschuldigt er sich wortreich für den muffigen Geruch. Nebenan stehen viele Bäume und weiter vorn die Verwaltungsgebäude des "Kranbau Eberswalde Betriebsteil Finkenheerd" leer. Ebenso verlassen wie er in blauem Kunstfaserhemd und seinen braunen Sandalen, längst überholt vom Lauf der Dinge und irgendwie übrig geblieben.

Tot auch das Bahngleis, das sie einmal direkt mit der Strecke Frankfurt (Oder)- Eisenhüttenstadt verband und damit anschloss an den Rest der Welt, auch wenn es eine geschlossene Welt war. Die Birken, die zwischen den Schienen wachsen, sind schon über drei Meter hoch. Birken wachsen schnell. Und wie um das Ganze noch zu steigern, deutet Theuer auf das einstige Pförtnerhaus des Kranbau. "Die Gardinen da drin sind von mir, da hatte ich mein Büro, solange ich nach der Wende selbstständiger Hausverwalter im Auftrag der Treuhand war und mich am Ende selbst abwickeln durfte."

"Ich wollte nie nach Finkenheerd", aber er wird bleiben an diesem verlorenen Ort, den man von der Autobahn Richtung Warschau nur erreicht, wenn man dem Hinweis folgt "letzte Ausfahrt vor der Landesgrenze". Wo sollte er denn auch hin? Durch keine Subvention aus dem Westen, durch keine Aufbauhilfe Ost zu heilen ist die Deklassierung, der Schmerz über die Auslöschung der eigenen Geschichte.

Wie es wirklich war, erzählt wahrscheinlich am besten der ehemalige Direktor der Gesamtschule Finkenheerd. Seit den Sommerferien gibt es seine Schule nun auch nicht mehr. Vom Schulamt hat er den Auftrag bekommen, im Untergeschoss des leer stehenden Gebäudes, das 1932 im klassischen Bauhausstil fertig gestellt wurde, drei Heimatstuben einzurichten mit den Themen: "Ortsgeschichte", "Schulmodelle" und "Tagebau". Hier drinnen existiert auf bunten Kinderzeichnungen an den Wänden der verödeten Flure noch, was draußen so ziemlich vergessen ist, die Türme des Kraftwerks. Wo sie waren, kann man einen Teil der größten "Investruine" an der Oder betrachten, eine Wasserleitung für das gescheiterte Projekt der Mikrochipfirma in Frankfurt/Oder.

Indessen zählt Gerhard Hanke in der Schule auf: "Wir hatten die Glashüttenwerke, den Bergbau, die Sirupwerke, den Kranbau, die Eisenbahn, das Kraftwerk, und jetzt haben wir nichts mehr, die Menschen werden hier so nicht mehr gebraucht." Muss sie im Osten denn tatsächlich immer wieder neu erzählt werden, die Geschichte von vor der Wende und was danach kam? Gibt es hier keine anderen Geschichten, die sich lohnen würden, erzählt zu werden? Hanke ist jetzt 76 Jahre alt, als die Wende kam, hat der Ex-SEDler den Dienst quittiert, da war er gerade 60. Aber niemals, sagt er, habe er sich wirklich von hier lösen können. Seitdem hat der alte Lehrer gesammelt, was ihm wissenswert erschien vom einstigen Industriestandort und von der einstigen Salvador-Allende-Schule. Als im Kultusministerium in Potsdam endgültig verfügt worden war, dass es in Brieskow-Finkenheerd zu wenig Kinder gibt, um eine Schule zu unterhalten, sollte das nicht der letzte Verlust für die Brieskower sein. Noch ahnte keiner etwas von den toten Kindern in der Bahnhofstraße, auch ihr Leben hätte ein Stück Zukunft bedeuten können. Am vorletzten Montag hatte auch Hanke es erfahren, ganz zufällig, weil er gerade in der Bahnhofstraße vorbeifuhr und die Spurensicherung in Schutzanzügen auf dem Grundstück hantieren sah. "Ein Mord? Nicht bei dieser Familie. Unmöglich!", das seien seine Gedanken gewesen. Er habe die Sabine doch selbst unterrichtet, in Geschichte, eine Zwei habe sie in seinem Fach gehabt. Nicht müde wird er, dieses schlanke, braunäugige Kind zu loben, das sie einmal war und das er gut kannte und mochte, das selbstbewusst vor der Klasse bei Veranstaltungen rezitierte, Goethe zum Beispiel. Was es genau war, daran erinnert sich seine Frau Katharina, ebenfalls Lehrerin, nicht mehr: Hier waren Leute, die einmal an Sabine H. geglaubt haben. "Die Kleene hat sich regelrecht da reingeschafft", sagt sie und kann es einfach nicht zusammenbringen mit der alkoholkranken, verwirrten Frau, deren Bilder sie im Fernsehen sahen. Nicht genug, dass ihre alte Schule nun nicht mehr da ist, schwerer legen sich die Taten ihrer ehemaligen Schülerin bei ihnen auf das Gemüt. So als ob ihnen die Vergangenheit ein zweites Mal und damit endgültig abhanden gekommen wäre.

Dennoch kann Hanke nicht davon ablassen, die Geschichte seiner ehemaligen Schülerin immer weiter zu berichten. Zur Erläuterung deutet er nach draußen in den Schulhof. Die Steinplatten schwärzlich gesprenkelt und vom ersten Laub übersät . "Das war unsere Welt. Die Schule, unsere Lehrerwohnung und links davon die Kirche, das Gotteshaus. Sabines Vater war bekannt als ordentlicher Mann. Die Familie war tipptopp, wie man das damals so sagte." Und lächelt etwas verlegen. Was nützt es denn, heute noch zu erwägen, "dass es damals vielleicht schädlich war, dass die beiden Mädchen niemals in den Hort gehen durften, nicht mit den anderen draußen spielen und an vielen Veranstaltungen nicht teilnehmen." Was sollte nachträglich besehen falsch daran gewesen sein, dass sie gegen die SED erzogen wurde, aber es könne sehr wohl ein heimliches Kinderdrama gewesen sein. Wer könne das so genau wissen. "Sabine war beliebt, sie hatte Ausstrahlung", erinnert sich Hanke, "ich dachte immer, aus der wird was." Sabine König, wie sie als Mädchen hieß, ist den umgekehrten Weg gegangen, der bei vielen Jugendlichen üblich ist. Sie hat sich zwar gegen die Eltern aufgelehnt, aber nur, um sich in den Schutz eines ungleich autoritäreren Systems zu flüchten. Wie sie mit ihrem Stasioffizier ankam, da war es zu Hause aus. Das hat ihr Lehrer Hanke noch selbst mitgekriegt. Was dann folgte, weiß auch er nur vom Hörensagen. Ihre nächste Station war der Plattenbau am Platz der Demokratie in Frankfurt (Oder), der damals Otto-Grotewohl-Platz hieß, eine StasiHochburg und der Anfang vom Ende.

Im Schulhof breitet ein gewaltiger Walnussbaum seine Äste aus Der steht schon lange da. In seinem Schatten hat auch Sabine König gespielt. Nussbäume pflanzt man für die Enkel. Es sind nur wenige Meter bis zur Turnhalle, elf Tage nach der Katastrophe wird in Frankfurt (Oder) eine Andacht für die toten Kinder der Sabine H. gehalten. Am gleichen Abend geht der Gemeinderat von Brieskow-Finkenheerd auf seiner ersten Sitzung nach der Katastrophe zur Tagesordnung über. Punkt eins: Rechenschaftsbericht der letzten Beschlüsse. Punkt sieben: Einwohnerfragestunde zur Schleusensanierung des Brieskower Kanals. Laut wird der sehnlichste Wunsch der Bürger vorgetragen: "Wir möchten uns endlich touristisch ausrichten!" (Von Ina Weisse) (tso)

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