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Kreuz

© David Heerde

Kirche: Das Kreuz tragen

Berlins Katholiken sind verunsichert und sehen die Kirche kritischer, stehen aber aktiv zu ihrer Gemeinde.

Ein bläulich flackerndes Licht hinter dem Altarkreuz. Ein weißhaariger Priester im Messgewand winkt mit der Hand: „Kommen Sie nur herein“, begrüßt der 88-jährige Erwin Probst einige Gläubige, die um 8 Uhr am Samstag gerade noch pünktlich zur Frühmesse eilen. Probst ist einer der ältesten, noch tätigen katholischen Geistlichen Berlins. Vier Frauen sitzen bereits in der Sankt-Bonifatius-Kirche an der Kreuzberger Yorckstraße, mitten im Kiez zwischen Mehringdamm und Yorckbrücken.

Draußen schieben sich Autos durch den Nieselregen, drinnen beten um diese Zeit die Treuesten der Treuen. Zu den Missbrauchsskandalen wird bei der Andacht nichts gesagt, aber danach ist das Thema auch hier gegenwärtig. Alle sind „über diese Priester entsetzt“, sie ziehen aber auch eine klare Grenze. Mit ihrem Glauben und dem lebendigen Gemeindeleben vor Ort, sagen sie, habe das alles „recht wenig zu tun.“

Ende Januar wurden die ersten Missbrauchsfälle am katholischen Canisius-Kolleg in Tiergarten bekannt. Dessen Rektor, Pater Klaus Mertes, nahm das Johannes-Evangelium wörtlich, in dem es heißt: „Die Wahrheit wird Euch befreien.“ Er machte die zum Teil einst vertuschten Fälle aus den 70er und 80er Jahren seiner Schule publik und erschütterte damit die Katholiken bis zum Vatikan. Weitere Missbrauchsopfer fassten Mut, über Verdrängtes zu berichten. Mertes löste eine Lawine aus.

Samstagabend, beim traditionellen Bußgang der Katholiken zur Fastenzeit, blieben die Übergriffe Thema. Etwa 600 Gläubige, einige mit einem großen Holzkreuz auf den Schultern, zogen von der Schöneberger St. Elisabeth-Kirche an der Kolonnenstraße quer durch Kreuzberg zur St. Johannes-Basilika am Südstern, um Gott um Vergebung für die Missbrauchsfälle zu bitten.

„Wir leiden darunter, dass es so viel Versagen in der Kirche gibt“, sagte der Katholische Erzbischof von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky, zum Abschluss des Bußganges. Für die Gläubige Dorotha Borth war genau dies der Grund, weshalb sie sich in die Schar der Büßer einreihte. „Das Kreuz der Katholischen Kirche ist schwerer geworden.“

Ist das Vertrauen der Berliner Katholiken in ihre Kirche durch die Skandale erschüttert? „Unser Glaube ist eine feste Burg“, versicherten etliche beim Bußgang. Ins Wanken gerate allenfalls die Glaubwürdigkeit der Amtskirche.

Dass viele Gläubige trotz allem festhalten am liebgewordenen Brauchtum und Gemeindeleben nun offenbar den Klerus mit argwöhnischeren Augen sehen, freut Laienorganisationen wie die „Junge Gemeinde“ oder die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB). „Da ist etwas aufgebrochen“, sagt Harry Podzuweit von der „Jungen Gemeinde“. Tabus in der Sexualpädagogik, das Verhältnis zum Schwulsein würden „breiter hinterfragt“, das Ideal des Priesters „als überhöhte moralische Instanz“ infrage gestellt. Podzuweit: „Viele Geistliche wollen doch gar nicht als Heilige aufs Podest gestellt werden.“ Man sollte sie „auch als Mensch ansehen, wie du und ich.“

Das sieht Winfried Kruss vom KAB-Vorstand ähnlich. Er nimmt den Zölibat in den Fokus. Der sei zwar längst nicht die einzige Ursache der Übergriffe, aber überfällig und nun verstärkt auf dem Prüfstand. Kruss ist 60 Jahre alt, Planer bei der Bahn, er versteht sich als überzeugter Katholik. Doch den Priestern will er es selbst überlassen, ob sie zölibatär leben wollen oder nicht. „Zwang“ sagt er, und da hat er in den vergangenen Wochen das Gefühl von mehr Rückendeckung, „Zwang passt nicht zur christlichen Überzeugung.“

Wer den Seelenzustand der Berliner Katholiken erkunden will, ist auch bei Ulrike Schuster richtig. Die 45-jährige Lehrerin betreibt nebenher ihren „Ave Maria“-Laden an der Potsdamer Straße in Schöneberg. Dort sieht es ein bisschen wie in Lourdes aus, in den Regalen liegen Engelsfiguren, Rosenkränze, Weihrauchkerzen und viele andere Devotionalien.

Die Kundschaft ist katholisch, bei Ulrike Schuster tauscht man sich aus. „Viele Gläubige sind hellhöriger geworden“, sagt sie. Von Aufmüpfigkeit oder Unruhe zu sprechen, sei aber übertrieben. Das kann der Sprecher des Erzbistums, Stefan Förner, teilweise belegen. An den 17 katholischen Schulen der Stadt habe es keine Abmeldungen gegeben. Auch von einer Austrittswelle sei nichts zu erkennen, es fehlten zwar noch aktuelle Zahlen, aber die Meldungen aus den Gemeinden sind, so Förner, „positiv.“

Und die Messen werden weiter vor recht vollen Bänken gelesen. Das weiß beispielsweise Vladow Sommer (68) aus Moabit, der dort Andachten im Dominikanerkloster an der Oldenburger Straße besucht, aber auch bei St. Kamillus am Klausenerplatz in Charlottenburg betet.

In der St.-Matthias-Kirche am Winterfeldtplatz kann von Gläubigenschwund gleichfalls keine Rede sein. Im Gegenteil. Dieter Funk (54), aktives Gemeindemitglied, beobachtet, „dass die Leute eher zusammenrücken und sich in die Gemeindearbeit stürzen.“ Auch Zerrissenheit registriert er. Jeder verurteile die Täter, doch viele hätten auch „wunderbare Priester“ kennengelernt, die ihnen im Leben weiterhalfen. Und Funk erlebt Trotzreaktionen. Manche seien genervt, weil jetzt auf ihrer Kirche herumgehackt werde, obwohl Missbrauch doch ein gesellschaftliches Problem sei.

Allerdings sind Berlins Katholiken skeptische Blicke gewohnt. Sie sind seit jeher eine Diaspora. Derzeit gibt es in der Stadt etwa 392 000 Katholiken und rund eine Millionen Protestanten. Pater Edgar Kotzur von Sankt Matthias machte ihnen am Samstag Mut. „Wir müssen uns nicht schämen, Katholik zu sein“, rief er den Gläubigen beim Bußgang zu.

Benjamin Lassiwe,

Christoph Stollowsky

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