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Ein Mann und sein Chor. Christoph Hagemann bringt das Werk eines seiner Vorgänger zu neuen Ehren.

© DAVIDS

Kirchenmusik - Requiem erlebt zweite Uraufführung: Singe, wem ein Lied gegeben

Der unerhörte Weg eines Requiems durch die Jahrhunderte: Am Sonntag erlebt es die zweite Weltpremiere in der Zwölf-Apostel-Kirche.

Mit langen Schritten durchmisst der Chorleiter den Probesaal, schwenkt herum, klimpert stehend ein paar Noten auf dem Flügel, setzt sich, schaut in die Noten, springt auf, setzt sich wieder. „Bässe, sagt mal, habt ihr noch etwas, was ihr üben wollt?“ Nö, murmeln die Bässe, die gerade Stühle aufreihen, auf denen im Anschluss der ganze Chor Platz nehmen soll. „Aber ich!“, ruft der Chef.

Die Bässe stimmen an: „Ihr Berge fallet über uns, ihr Hügel decket uns.“ Wohl tönt es, aber dem Chef nicht wohl genug. Hier weniger Betonung, da die Ecke aus dem Klang, ruft er. Und noch mal.

Während die Bässe ihre Tonlagenprobleme beheben, treffen die Tenöre, Alt- und Sopranstimmen ein. Sie schütteln den abendlichen Platzregen aus tropfnassen Jacken, spannen Schirme zum Trocknen auf. Punkt 19.30 Uhr winkt Christoph Hagemann sie zusammen, Arme lockern, Stimme aufwärmen. Aus mehr als 60 Kehlen klingt schon das w-w-w, s-s-s imposant. Dann steigen alle ein: „Ihr Berge fallet über uns, ihr Hügel decket uns“, es braust und tost im Saal, aber Hagemann hört immer noch etwas, was besser werden muss, er gestikuliert, benennt, singt vor, spielt vor und noch mal.

Das alte Requiem wurden bei einer Wohnungsauflösung entdeckt

Dass er voller Leidenschaft Chorleiter ist, wissen alle hier, auch deswegen – seinetwegen – ist der Chor beständig größer geworden. Aber diesmal geht es um etwas Besonderes: Was der Chor der Schöneberger Zwölf-Apostel-Kirche gerade übt und an diesem Sonntag zu seiner zweiten Weltpremiere bringen will, ist ein 1885 uraufgeführtes und dann verschollenes Requiem aus der Feder eines der ersten Leiter eben dieses 1877 gegründeten Chores. Es geriet 2012 an Hagemann, der es wiederbelebte.

Seine Augen leuchten, als er davon erzählt: Ein ihm unbekannter Kirchenmusiker räumt also vor zwei Jahren in Kassel eine Wohnung aus, wobei ihm ein großes altes Buch in die Hand fällt. Darin sieht er auf mehr als 200 Seiten handschriftliche Notenreihen für Flöte, Fagott, Geige, Bläser und einen Chor. „Zur Todtenfeier – Requiem für Soli, Chor und Orchester“ steht auf dem ersten Blatt. Und der Name Carl Mengewein. Der Finder befragt das Internet und liest: Mengewein, geboren 1852 in Thüringen, wurde 1893 Leiter des Berliner Zwölf-Apostel-Kirchenchors und starb 1908 in „Groß-Lichterfelde bei Berlin“. Er sucht einen Kontakt zu Chor und aktuellem Leiter, unterrichtet diesen über seinen Fund und sendet ihm das Buch per Einschreiben und gegen die Zusage von zwei Freikarten für die Premiere, falls es eine gibt.

Hagemanns Chor ist für alle offen - trotz seiner Ansprüche

Ein Mann und sein Chor. Christoph Hagemann bringt das Werk eines seiner Vorgänger zu neuen Ehren.
Ein Mann und sein Chor. Christoph Hagemann bringt das Werk eines seiner Vorgänger zu neuen Ehren.

© DAVIDS

Hagemann hat sich dann rangesetzt und aus der Partitur die einzelnen Stimmen rausgeschrieben, so dass jedes Instrument seinen eigenen Notenzettel hat. Und er hat dem Chor, einer Laientruppe, mitgeteilt, was als Nächstes auf sie zukommen wird: das Einüben von Liedern, die sie nie zuvor gehört haben. Eine besondere Schwierigkeit, wie jedem schwant, der sich überlegt, wie er ein Lied üben würde, nach Gehör nämlich. Ein wenig können sich die Sänger an Noten orientieren, aber auch nicht alle. Das Klavier half um viele Klippen herum, und inzwischen sitzt das Stück seinen Interpreten so im Ohr, dass mancher nach der Probe Tage braucht, um es wieder herauszubekommen.

Bei dieser Probe geht es nach den ersten Übungen im Saal des Gemeindehauses erstmals rüber in die Kirche, wo die Sänger schnell zu ihrer angestammten Aufstellung zurückfinden. Und wieder von vorne: „Ihr Berge fallet über uns, ihr Hügel decket uns!“ Jetzt klingt es noch opulenter, mächtiger, bewegender.

Ganz auf Profis kann er nicht verzichten, das Orchester besteht aus Berufsmusikern

Hagemanns Chor ist für jeden offen. In der Kirche singen, das sei Gott loben – so lautet sein Motto, und wer sei er, jemandem vom Gottloben abzuhalten? Im Gegenteil: Hagemann, der als Teenager bereits in erzgebirgischen Dorfkirchen orgelte und später in Berlin Kirchenmusik studierte, schätzt die Arbeit mit Laien. Es mache ungeheuren Spaß zu sehen, was man erreichen könne, und den Spaß der Laien am Besserwerden.

Ganz auf Profis kann Hagemann bei Mengeweins Requiem aber nicht verzichten: Das Orchester setzt sich aus Berufsmusikern zusammen. Denen reichen zwei Proben. Eine am Sonnabend, eine am Sonntag, dem Premierentag.

Wie viele Interessierte es in die Kirche ziehen wird? Hagemann wagt keine Prognose. Die Freikarten an den Finder der Handschrift hat er verschickt, aber keine Reaktion erhalten. Einerseits locke die Aussicht auf bisher ungehörtes Kirchenmusikalisches vielleicht an, andererseits schrecke vielleicht gerade das ab. Deshalb würden sie auch noch etwas Bekanntes von Brahms spielen. Hagemann lacht und hofft. Er hat so viel Arbeit in das Werk gesteckt. Es gefällt ihm richtig gut und hätte ein wenig Beachtung verdient.

Als der Chor am Probenende die Kirche verlässt, hat der Regen aufgehört. Lau ist der Abend, versöhnlich nach dem Guss von vorhin. Versöhnlich, sagt Hagemann, ende auch Mengeweins Requiem. Als glaube es trotz allem an den Anfang.

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