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Berlin: Klaus Fiedler (Geb. 1938)

"Der macht immer Ärger. Der ist völlig versponnen"

Woher kann er das wissen, im Sommer 1989? Bis zu Günter Schabowskis Zettel dauert es noch Monate, bis zur Währungsunion ein ganzes Jahr. Im Sommer 1989 probt Klaus Fiedler das Stück „Neue Reiche“. Er lässt Menschen mit Einkaufskörben in den Händen zu Brahms’ „Deutschem Requiem“ über die Bühne laufen, die sich fieberhaft bemühen, von der Decke herabregnende Geldscheine mit ihren Körben aufzufangen.

30 Jahre vor dem Sommer 1989 sitzt Klaus Fiedler, Lehrling der Kartografie, vor Papierbögen und soll Seen, Städte und Straßen eintragen. Er überblickt die Fläche, beugt sich nach vorn und zeichnet Bäume und Kirchen ein, die es nirgends gibt.

Ein guter Kartograf tut so etwas nicht, also wird er gar kein Kartograf. Er geht dorthin, wo man nicht nur Bäume und Kirchen, sondern ganze Leben entstehen lässt, die es sonst nirgends gibt, ans Theater. Erst als Bühnentechniker, später als Schauspieler. Dazwischen widmet er sich der Theorie, aber die Leipziger Universität betrachtet sein fantasiebegabtes Wesen als wesensfremd und wirft ihn raus: „Herr Fiedler, für ein Studium der Theaterwissenschaften fehlt Ihnen jegliches gesellschaftliches Bewusstsein.“

Die Schauspielerei ist für ihn ein Nebenweg, um auf den tatsächlichen zu gelangen. Als er noch auf die Anweisungen anderer zu hören hat, sieht er bereits die ganze Inszenierung, das Zusammenspiel der Rollen, die Resonanz des Stücks. Schließlich führt er die Schauspieler, ohne ihnen seine Sicht aufs Stück aufzuzwingen. Und fordert sie. Sie sollen keine gebrauchsfertigen Masken aufsetzen, sollen hinabsteigen in die hintersten Winkel ihres Selbst, etwas enthüllen, von dem sie vielleicht noch nicht einmal geahnt haben, dass es existiert.

Es gibt auch Debatten. „Warum soll ich unbedingt von rechts auftreten?“, fragt ein Schauspieler. „Weil dort der Tisch steht, an den du dich dann setzt.“ Der Schauspieler verschränkt die Arme und wiederholt seine Frage. Klaus Fiedler versucht eine andere Antwort. Der Schauspieler findet sie genauso unsinnig wie die erste. Und plötzlich sieht er einen Schuh durch die Luft fliegen, direkt auf sich zu.

Wie Klaus Fiedler die Schauspieler fordert, fordert er auch die Zuschauer, die mehr sein sollen als nur Schauende. Im Spiel werden sie zusammengeführt, die Akteure oben auf der Bühne und das Publikum unten im Saal. Theater ist für ihn keine kultivierte Abendunterhaltung, ein bisschen Shakespeare, ein wenig Goethe zur Erbauung der Bürger. Theater soll dramatische Zeiten widerspiegeln, angelegt als Komödie, in der immer schon das Tragische steckt.

Zu seinem ersten Stück, der „Komödie der Irrungen“, inszeniert in Leipzig, lädt er seine Eltern ein. Der Vater ist Rohrleger, die Mutter Sekretärin. Nach der Vorstellung laufen sie in die Kantine, durch eine Seitentür, die durch die Theaterkatakomben führt. In einem der niedrigen Gänge bleibt der Sohn stehen und stellt die Frage: „Wie fandest du’s denn?“ Sein Vater hebt den Kopf, klopft gegen eine Leitung und sagt: „Die Rohre hier sind wirklich 1a.“

Klaus Fiedler wird nicht gepackt vom intellektuellen Entsetzen, wenn er mit den sogenannten einfachen Leuten an einem Tisch sitzt. Stundenlang spricht er mit den Beleuchtern, den Fahrern, den Garderobieren, den Kartenabreißern, bevor er, als Schauspieldirektor am Theater in Rudolstadt, seine Spektakel veranstaltet: Mehrere Stücke laufen parallel, dazu Puppenspiele, Jazzkonzerte, Gespräche mit dem Publikum während der Pausen. Aus der ganzen DDR reisen die Leute an, noch Jahre später spricht man von der Rudolstädter „Fiedler-Ära“.

Vor Rudolstadt arbeitet Klaus Fiedler in Altenburg. Dort lernt ihn ein 24-jähriger Student der Altphilologie kennen, der am Theater hospitiert. Er heißt Ingo Schulze und wird Jahre später ein berühmter Schriftsteller. In seinem Roman „Neue Leben“ wird er Klaus Fiedler auftreten lassen, dort heißt er „Flieder“. Auf der Trauerfeier für Klaus Fiedler wird Ingo Schulze eine Rede halten und sich an die Begegnung mit dem Regisseur erinnern.

Man hat ihn vor Fiedler gewarnt, damals in Altenburg: „Den versteht niemand, deshalb versteht er sich auch mit niemandem. Der macht immer Ärger. Der trägt einen Pferdeschwanz. Der ist völlig versponnen.“

Das ist das eine. Das andere sind Ingo Schulzes Erfahrungen am Theater: Man hat ihn vor allem ignoriert. Er kommt sich völlig fehl am Platze vor, niemand will etwas von ihm. Und dann das: „Als Erstes sah ich den Rücken von Klaus Fiedler, vor allem den mir avisierten Pferdeschwanz, der aus den Resten eines Haarkranzes gebunden war und grau und dünn über den Kragen hing. Erwartungsgemäß drehte sich der Regisseur Fiedler nicht nach mir um, als ich eingetreten und zum Tisch gegangen war. Ebenso erwartungsgemäß ließ er sich meine Vorstellung wiederholen. Dann aber sagte er: ,Das also ist Ingo. Ingo wird uns hier bei allem helfen. Schön, Ingo, dass du da bist.’ Niemand lachte.

Klaus war so freundlich und so formvoll zu mir, dass ich Verdacht witterte, er nehme mich auf die Schippe. Natürlich weiß ich nicht mehr, ob er es genau so gesagt hat, aber ich weiß noch, dass ich mich wunderte, wie einfach das sein konnte, selbst am Theater, akzeptiert und zur Mitarbeit eingeladen zu werden.

Was folgte, ähnelte eher einem Seminar oder einer Vorlesung als einer Probe. Klaus Fiedler ging auf und ab, sprach und kicherte und wurde in meinen Augen immer mehr zu einer Art Faun oder Satyr ...

Wir saßen eine Woche oder länger um einen Tisch und sprachen das Stück durch – und das auf eine Art, wie ich es mir nicht hätte träumen lassen. Klaus hatte uns den Behaviorismus von Watzlawick verordnet. Wir gliederten das Stück auf in viele kleine Einheiten, ja wir strukturierten es nach Lösungen verschiedener Kategorien und erhielten so die Kipppunkte, Zäsuren, an denen sich etwas änderte. Es geschah genau das, was ich immer behauptet hatte, wenn ich gefragt wurde, warum ich Dramaturg werden wollte, nämlich die Wissenschaft als Anregung für etwas Eigenes zu nutzen. Wir stiegen förmlich in den Text hinein. Im Verein mit den anderen hob mich Klaus über mein eigenes Limit, er ließ mich intelligenter und anregender reden, als ich mich kannte. Vor allem aber geschah alles so lustvoll. Es war die Lust, das Glück, das Unglaubliche, an der Entstehung eines Kunstwerks teilhaben zu dürfen.

In einem riesigen ruinösen Gebäude probte er den ganzen Winter, erwärmt nur von der Arbeit und einem Eisenofen, der selbst dann, wenn er glühte, die Raumtemperatur nur unwesentlich veränderte. Für die Schauspieler waren wohl Glück und Tortur mitunter kaum zu unterscheiden. Klaus muss in jedes Wort, in jeden Satz hineingekrochen sein.

Als ich die Generalprobe sah, dachte ich, die Inszenierung würde verboten werden. Es war plötzlich ein Stück über die Situation im Frühjahr 1988, in dem nichts die Gespräche von Freunden und Bekannten so sehr bewegte wie die Frage: Gehen oder Bleiben. Es war ein Stück auch darüber, was unter so einer Frage aus einer Liebe wird, aus dem Begehren wird, aus den Sicherheiten und bisherigen Rollenaufteilungen …

Ich staunte, dass es überhaupt zur Premiere kam, dass das Stück zur Premiere zugelassen wurde. Und dann staunte ich, dass das Publikum am Ende nicht von den Plätzen aufsprang, dass der Applaus mäßig war, von ein paar angereisten Enthusiasten einmal abgesehen. Es gab sieben oder acht Vorstellungen und eine mäkelnde Rezension auf der Altenburger Lokalseite der Leipziger Volkszeitung.“

In Rudolstadt lief es dann besser, selbst die Kulturfunktionäre lobten ihn – zunächst. Dann wurde ihnen die Energie unheimlich. Zu wild, zu politisch war das alles. Sie warfen ihn aus dem Theater. Aber er machte weiter, inszenierte als Gastregisseur, unterrichtete an Schauspielschulen. Immer noch wild, immer noch politisch. Den Funktionären reichte es irgendwann. Der Staat, der so viel auf seine Arbeiter und Bauern hielt, versetzte ihn in ein Pförtnerhäuschen.

Im Herbst 1989 verliest Schabowski seinen Zettel. Ein Jahr später regnet es Geldscheine, und die Leute verlieren ihre Arbeit. Bei Klaus Fiedler aber rufen die Intendanten an. Im Jahr 1990, als sei es die Pointe in einem Stück, fällt er um, eine Blutung im Gehirn. Er kommt wieder auf die Beine. Die Worte kann er nur noch mühsam formen, doch die Sprache, gewaltig, verwegen, doppelbödig, ist noch in seinem Kopf. Er lädt zu literarischen Abenden. Man liest Brecht, Brasch, Müller und Tschechow. Man isst, trinkt. Man redet, streitet und lacht.

Im Sommer 2013, zu seinem 75. Geburtstag, soll noch einmal gelesen, gegessen, getrunken, geredet, gestritten und gelacht werden. Das Fest findet nicht statt. Tatjana Wulfert

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