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Berlin: Klaus Witt (Geb. 1948)

Als die Grenzstreife vorbei ist, lassen sie das Boot zu Wasser.

Mit dem ersten Lohn in der Tasche fährt Klaus Witt im Oktober 1969 nach Ost-Berlin. Er will die Mauer aus der Nähe sehen. Und ist enttäuscht, wie wenig man vom Westen erspähen kann. Abends geht er in eine Kneipe, wo er mit zwei Männern seines Alters ins Gespräch kommt. Nach einigen Glas Bier erzählt Klaus, dass er von einer Insel hoch im Norden kommt, Hiddensee, und die Absicht hat, über die Ostsee in den Westen zu flüchten, zur dänischen Insel Møn. Schnell sind sich die drei in der Kneipe einig: Wir hauen gemeinsam ab.

Am nächsten Morgen kaufen sie ein Faltboot. An der Küste wäre das vollkommen unmöglich; man hätte sich verdächtig gemacht, so kurz vor dem Winter.

Sie fahren in die Nähe von Stralsund, bauen das Boot zusammen und paddeln im Dunkeln hinüber nach Hiddensee. Die Nacht ist klar und windstill. Klaus geht nach Hause, holt den Kompass seines Großvaters und eine Taschenlampe. Auf dem Weg zurück zu den Wartenden winkt er dem Inselpolizisten und einem Nachbarn einen Gruß zu.

Die drei beobachten die Küste der Insel. Als die Grenzstreife vorbei ist, lassen sie das Boot zu Wasser und paddeln zügig Richtung Nordwesten. Nach zwei Stunden wird es ihnen unheimlich in der endlosen Stille. Es ist stockdunkel und nirgends Land in Sicht. Einer verliert die Fassung: Er mache nicht mehr mit. Er will aussteigen. Im Handgemenge droht das Boot zu kentern. Im letzten Moment kommen sie zur Besinnung. Nur gemeinsam haben sie eine Chance.

Nach dreieinhalb Stunden taucht ein riesiges Schiff mit kyrillisch aussehenden Schriftzeichen auf. Den Flüchtlingen stockt der Atem: Russen! Als dann aber eine Strickleiter herabgelassen wird, schwindet die Angst. Der griechische Kapitän und seine Mannschaft stehen sprachlos vor den Männern, als sie von der irrsinnigen Aktion hören.

Die Familie weiß tagelang nicht, was los ist. Keiner hat die Flucht bemerkt. Keine Polizei, keine Stasi kommt und will wissen, wo Klaus ist. Der kommt bei einer Tante unter, in einem mondänen Haus in Dahlem, West-Berlin.

Klaus wird U-Bahn-Fahrer. Er arbeitet sich hoch zum Wagenprüfer und ist stolz auf das Erreichte. Ohne seinen Kontrollblick darf kein Zug eingesetzt werden. Er reist um die ganze Welt – und hängt an Berlin. Er mag die laute, ruhelose Stadt. Und lernt sie niemals wirklich kennen, weil er selten seinen Kiez verlässt.

Alle paar Jahre kauft er sich einen größeren Fernseher. Jedes Gerät, das es möglich macht, neue Programme zu sehen, schafft er sich an. Zum Schluss sind es über tausend auf seinem fast zwei Meter großen Bildschirm. Klaus zappt sich um den Globus, freut sich an exotischen Sprachen und Bildern. Ununterbrochen. Zu Hause ist er an keinem Ort.

Mit seinen spitzen Schuhen, den engen Hosen und dem Cowboyhut fällt er auf. Er ist homosexuell. Darüber kann und will er im Verwandtenkreis jahrelang nicht reden. Seine Lebensgefährten bleiben verborgen. Seit einer Amnestie zu Beginn der Siebziger darf er zwar wieder auf seine Insel – aber mit einem schwulen Freund? Unmöglich. Klaus schweigt und trinkt.

In Berlin ist er immer pünktlich und korrekt. Er weiß genau, wann er aufhören muss, um bei Dienstbeginn nüchtern zu sein. Seine Arbeit macht ihm Spaß, er will sie nicht verlieren.

Erst spät, nach 1989 erzählt Klaus in seiner eigenwilligen Mischung aus Berlinisch und Norddeutsch detailliert von seiner Flucht und davon, dass seine damaligen Gefährten auf die schiefe Bahn gekommen sind, gescheitert in der freien Welt. Er hat sie nie wieder gesehen.

Wenige Monate nach seinem 58. Geburtstag geht Klaus Witt mit einer guten Abfindung in den Ruhestand. Seine Kollegen schenken ihm ein Album, das er von nun an immer bei sich trägt. Fast alle, die ihn kannten, sind darin mit einem Foto, einem kurzen, oft witzigen Text und mit herzlichen Grüßen vertreten. Sie wünschen ihm alles Gute für die Zukunft.

Klaus will einige Zeit raus aus Berlin, auf die Insel, wo die greise und kranke Mutter und seine Schwester mit Familie leben. Nach dem Tod seines langjährigen Freundes Harald ist es nur noch der Kater Moritz, den er in seiner Nähe mag. Kater Moritz kommt mit an die Küste. Nach wenigen Wochen stirbt das Stadttier; bei einem seiner ersten Ausflüge in die freie Natur ist es einer Kreuzotter begegnet.

Auf Hiddensee wurde Klaus Witt geboren, hier, im Haus der Großeltern hat er seine Kindheit verbracht. Aus einem Zimmer in der ersten Etage kann man hinausblicken aufs Meer. Nach Westen. Am Horizont hat er die Silhouetten der großen Schiffe gesehen. Näher kamen sie selten, denn es war Grenzgebiet. Nie durfte er auf einer Luftmatratze hinaus aufs Wasser. Da passten die Grenzer auf, besonders bei ablandigem Wind. Bis zu seinem 14. Lebensjahr hat Klaus die Insel kaum einmal verlassen. Was er wusste von der Welt, hatte er aus dem Fernseher, einem kleinen Schwarzweißgerät. Bei gutem Wetter konnte er damit „Westen“ sehen.

Nun steht er oft am Strand, lässt sich den Wind ins Gesicht blasen und genießt den Blick über das offene Meer.

Er räumt auf und kocht, er streicht und fegt. Immer wieder sagt er: Nächste Woche fahre ich zurück nach Berlin. Doch er bleibt und merkt, wie seine Kräfte schwinden – und verliert kein Wort darüber. Eines Abends spürt er ein Kribbeln in den Beinen und stürzt vom Stuhl. Am nächsten Morgen ist er tot. Gestorben an Herzversagen, wenige Wochen vor seinem 59. Geburtstag.

Die Schwester findet beim Ausräumen der Wohnung in Berlin eine Postkarte aus der Südsee und hunderte ungeöffneter Briefe. Behördenschreiben, Kontoauszüge, Lohnzettel. Der Kauf einer Eigentumswohnung, bei dem man ihn über den Tisch gezogen hatte, wäre beinahe sein Ruin gewesen. Nun hatte er wieder Geld. Vielleicht hätte alles gut werden können. Donat Schober

Donat Schober

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