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Klaus Wolfermann (1938-2017)

© privat

Berlin: Klaus Wolfermann (Geb. 1938)

Wir unterscheiden uns in manchem, in vielem aber eben nicht

Er will nur rasch Schrippen holen, gleich um die Ecke. Fünf Minuten bräuchte er dafür. „Tach Klaus“, ruft ihm ein Mann aus dem Nachbarhaus zu, und Klaus bleibt stehen und redet. „Günaydin“, grüßt ihn eine Frau von gegenüber und Klaus bleibt stehen und redet. Dann rein in die Bäckerei, mit der Brötchentüte ein paar Meter die Sparrstraße entlang. „Schalom“, winkt eine Dame von der anderen Seite des Sparrplatzes, und Klaus bleibt stehen, redet. Nach einer Dreiviertelstunde ist er zurück.

Das hat, selbstverständlich, mit Klaus selbst zu tun. Mit seiner Arbeit im Quartiersrat, im Kiezrat, in der Fördergeldervergabejury. Mit seiner zwanglosen Erscheinung, Haare bis auf die Schultern, Rollkragenpulli, Cordjackett. Mit seiner unprätentiösen Einstellung: alt, jung, verlottert, schick, Christ, Muslim, wir unterscheiden uns in manchem, in vielem aber eben nicht.

Es hat aber auch mit dem Sprengelkiez zu tun, der ein bisschen wie ein Dorf wirkt. Keine große Straße durchschneidet das Areal, man hört die Bäume rauschen, Kinder toben, Männer schwadronieren. Das Auto- und S-Bahngetöse bleibt draußen. Anfang der Achtziger hieß das Schreckenswort Kahlschlagsanierung, an deren Ende das Alte und die Alten verschwinden würden. Die Hausbesitzer sollten verkaufen, auch Klaus, dem die Nummer 22 in der Sparrstraße gehörte. Doch Klaus verkaufte nicht, auch nicht, als der Druck stieg. Er sprach mit den Nachbarn, mit Politikern und Journalisten, gründete eine Bürgerinitiative. Es gelang, der Kahlschlag wurde abgewendet. Klaus’ Ehe allerdings hielt dem Gezerre nicht stand. „Übrig blieben“, sagte er, „ein Drittel meines Magens und 170 Zentimeter Akten.“

Außerdem arbeitete er ganz regulär an der FU. 40 Jahre betreute er die Foto- und Diasammlung der Geographischen Fakultät. Dabei hatte zunächst kaum etwas nach einem Uniposten ausgesehen. Die Lehrer bescheinigten ihm ein großes Interesse, „nur unterrichten wir leider nicht die Fächer, für die er sich interessiert.“ Er lernte Fotomechaniker, holte das Abi nach, studierte ein paar Semester Geologie, nahm die Unistelle an, war in der Gewerkschaft aktiv, bis zur Rente.

Aber jetzt hat er noch mehr zu tun. Allein das Schrippenholen. Oder die Aktion: lebendiger Adventskalender. Im Sommer schon muss man mit den Vorbereitungen anfangen. Jeden Tag, von Ende November bis zum 24. Dezember, öffnet sich eine private Wohnungstür. Wer mag, darf rein. Zu Glühwein und Plätzchen bei einem Ehepaar. Zum Gesteckbasteln bei einer älteren Dame. Zu einer muslimischen Familie, die schon zwei Tage vorher mit dem Kochen begonnen hat. Zu einem buddhistischen Mönch, der Tee reicht. Zu einer Jüdin, die die Kerzen auf dem Chanukkaleuchter anzündet. 900 Menschen treten über fremde Schwellen, setzen sich, sprechen, lachen, und nach zwei Stunden wundern sie sich, überhaupt das Wort „fremd“ gedacht zu haben.

Klaus sagt: „Menschen sind wie Bücher. Manchmal muss man ein paar Seiten weiterblättern, bevor es interessant wird.“ In fast allen Wohnungen dieser Menschen stehen bunte Kerzen, Klaus’ Kerzen. Die Leute sammeln ihre Wachsreste und bringen sie ihm, und er, „der Kerzenmann“, gießt damit kleine Kunstwerke.

Bis die Ärzte dieses verdammte Wort sagen: Krebs. Intensivstation. Schlaganfall. Er kann nicht mehr richtig laufen, nicht mehr sprechen. Wie soll er das aushalten? Klaus in seinem Kiez, ohne Schrippentüte in der Hand, ohne stehen zu bleiben, ohne mit den Menschen zu reden? Er stirbt im Krankenhaus. Er muss es nicht aushalten.

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