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Berlin: Kleiner Anlass – große Krise

SPD und PDS über Gysis Rücktritt schockiert / Senat will Nachfolgefrage heute in Sondersitzung klären / Kein Verständnis für Begründung

Von B. Grunert, B. Junge und L. v. Törne

Der überraschende Rücktritt von Gregor Gysi kann die rot-rote Koalition in eine schwere Krise stürzen. Der Bürgermeister und Wirtschaftssenator, der zugleich auch sein Mandat im Abgeordnetenhaus niederlegte, war der Hauptmann der PDS, Garant für den Zusammenhalt der Koalition. Der Senat tritt am heutigen Donnerstagnachmittag zu einer Krisensitzung zusammen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit unterbricht seinen Urlaub; er wird kurz vor der Sitzung in Berlin zurück erwartet. Wer Gysis Nachfolger wird, steht in den Sternen.

In der Koalition herrscht Alarmstimmung. Bisher stellt aber niemand die Stabilität des SPD/PDS-Bündnisses in Frage, das erst im Januar geschmiedet wurde. Nach den politischen Erschütterungen des vergangenen Jahres – die Große Koalition zerbrach an der Bankenkrise und der Parteispendenaffäre der CDU – wagt niemand, schon wieder das Wort Neuwahlen in den Mund zu nehmen. Doch der Wind weht Rot-Rot ohnehin ins Gesicht, und nun ist auch noch die Leitfigur der PDS abhanden gekommen. Diese wichtige Rolle wird weder den PDS-Senatoren Thomas Flierl (Wissenschaft und Kultur) und Heidi Knake-Werner (Gesundheit, Soziales) zugetraut, auch nicht dem Fraktionschef Harald Wolf oder dem jungen PDS-Landeschef Stefan Liebich. In der Sondersitzung des Senats soll zunächst ein „Terminfahrplan“ verabredet werden. Es gehe darum, wann die PDS einen Nachfolger vorschlägt und wann er im Parlament gewählt werden soll, sagte SPD-Fraktionschef Michael Müller. Parteichef Liebich nahm dieses Vorschlagsrecht für die PDS in Anspruch. Wegen der Beratungen im Senat und in den Parteigremien eilten Senatoren und Spitzenpolitiker beider Parteien aus den Ferien zurück.

Senatswahlen sind im Abgeordnetenhaus immer eine schwierige Klippe. Bei der Wahl des rot-roten Senats am 17. Januar fiel SPD-Chef Peter Strieder im ersten Wahlgang durch, obwohl die Koalitionsfraktionen über eine auskömmliche Mehrheit von sieben Stimmen verfügen.

Berlins PDS-Chef Stefan Liebich zeigte sich am Mittwochabend persönlich enttäuscht von Gysis Schritt. Er hatte erst am Mittwochmorgen erfahren, dass der Senator seinen Rücktritt erwägt. „Sein Schritt ist für die PDS nicht einfach – er war unser populärster Politiker“, sagte Liebich. Eine Gefahr für das rot-rote Regierungsbündnis sehe er aber nicht: „Die Koalition ist stabil.“ Liebichs Vorgängerin Petra Pau, die als Berliner Spitzenkandidatin für den Bundestag kandidiert, zeigte sich weniger optimistisch: „Der Rücktritt ist ein harter Schlag für die Koalition.“ Denn das Bündnis und die Koalitionsvereinbarung „tragen die Handschrift von Gregor Gysi.“ Jetzt könne es keine schnellen Antworten geben, wie es in Berlin weitergeht.

Die PDS ist verärgert über Gysis Rolle in der Flugmeilen-Affäre. Dennoch sei die private Nutzung von dienstlich erworbenen Bonusmeilen Gysis kein genügender Grund, um zurückzutreten, hieß es in der Parteispitze. Die Sozialdemokraten reagierten konsterniert und enttäuscht auf den Rücktritt, für den sie in der Flugmeilen-Affäre ebenfalls keinen Grund sehen. „Ich bin enttäuscht und sauer“, sagte SPD–Landeschef Peter Strieder dem Tagesspiegel. Selbst die Opposition im Abgeordnetenhaus hatte den Senator nicht zum Rücktritt aufgefordert.

Der Entschluss Gysis traf die meisten in der Koalition völlig unverhofft. Dem Vernehmen nach führten allerdings die Spitzen von SPD und PDS in den letzten zwei Tagen Telefongespräche von Urlaubsort zu Urlaubsort, um Gysi von seinem Schritt abzuhalten. Auch Wowereit, der keinen Rücktrittsgrund sah, konnte Gysi nicht umstimmen. Gysi selbst kehrte erst am Mittwoch aus seinem Landhaus in der Märkischen Schweiz zurück. „Ich bedauere den Rücktritt, muss aber den Schritt respektieren“, ließ Wowereit mit Dankesworten für die „fruchtbare Zusammenarbeit“ erklären.

SPD-Fraktionschef Michael Müller, der ständigen Telefonkontakt mit seinem PDS-Kollegen Harald Wolf hielt, sieht die Koalition nicht gefährdet. „Warum denn“, fragte er rhetorisch: „Ich habe keineswegs den Eindruck, dass jetzt bei der PDS Oppositionsfieber ausbricht.“ Gysis private Nutzung dienstlich erworbener Flugmeilen sei „eine Riesendummheit“, aber kein Grund zum Rücktritt als Senator. Müller äußerte sich sehr enttäuscht, dass Gysi trotz der vertrauensvollen Zusammenarbeit die Regierungsverantwortung nicht mehr tragen wollte. Mit dem eigenen innerparteilichen Ärger müsse die PDS fertig werden, die Sache mit den Bonus-Meilen habe Gysi mit dem Bundestag zu klären. Gysis Rücktritt von seinen Ämtern sei eher ein schwerer Schlag für die PDS im Bundestagswahlkampf.

Schulsenator Klaus Böger (SPD) wurde am Abend auf Sylt von der Nachricht überrascht. Er billige diese Affäre nicht, aber er halte „den Rücktrittsschritt von Gregor Gysi für überzogen“. Er glaube auch nicht, dass der Ärger um die Bonusmeilen das eigentliche Motiv Gysis sei. „Es gibt eben die Mühen der Ebene“, sagte Böger: „Gysi hatte ja schon einmal mit der Politik abgeschlossen. Er ging mehr spielerisch in den Senat und will sich offensichtlich nicht mehr dem Druck der Berliner Politik aussetzen.“ Die Koalition sieht auch Böger nicht gefährdet. „Aber leichter wird es nicht, das ist sicher.“ Gysi mit seiner Erfahrung und Eloquenz sei die entscheidende Figur in der PDS gewesen.

Böger sieht zu Rot-Rot keine Alternative. Er verwies auf das Scheitern der Verhandlungen über die Ampel-Koalition mit der FDP und den Grünen im Dezember 2001. An den Gründen habe sich nichts geändert. In SPD–Kreisen hieß es, Gysi habe der PDS in den Augen der West-Berliner ein „menschliches Antlitz“ gegeben. Aber er sei „in Wahrheit nicht hart genug“.

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