Hilfe, die präparierten Leichen kehren zurück. Und diesmal an einen der prominentesten Orte Berlins, direkt in den Sockel des Fernsehturms. Und nicht bloß für ein paar Monate, sondern für immer!
Seit bekannt geworden ist, dass Chef-Plastinator Gunther von Hagens, 69, seine bislang umherwandernden Toten ab Herbst in einer Dauerausstellung am Alexanderplatz unterbringen will, ist die Empörung groß. Der berühmteste Mann mit Hut nach Udo Lindenberg spricht von der Erfüllung eines „langgehegten Traums“, Kritiker ärgern sich, dass von Hagens’ „Menschen-Museum“ ausgerechnet in so zentraler Lage platziert wird. Da leide doch sicher die Umgebung. Sie werde verschandelt, heißt es.
Aber stimmt das überhaupt? Wer sich Zeit nimmt und aufmerksam den Berliner Fernsehturm umschreitet, den Alexanderplatz auf der einen, die Freifläche um den Neptunbrunnen auf der anderen Seite, der muss sich eingestehen: Hier gibt es recht wenig, was überhaupt verschandelt werden könnte. Charmante Cafés, Szenerestaurants, gemütliche Kneipen, liebevoll eingerichtete Läden, hochwertige Ausstellungen und sonstige Kulturangebote ... Das alles kann man am Alexanderplatz lange suchen. Die Gegend ist seit Jahren so blutleer wie die Exponate, die hier künftig ausgestellt werden sollen.
Statt eines Traditions-Imbisses gibt es Dunkin’ Donuts. Anstelle eines Programmkinos steht ein Multiplex. In der Bowlingbahn kostet der Corona-Eimer 19 Euro, die stilvollste Beleuchtung ist die geschwungene rote Röhre mit dem Cola-Cola-Schriftzug; und dröhnt aus den Boxen Cindy Laupers „Girls Just Want to Have Fun“, ist es mit Sicherheit die mit dicken Bässen unterlegte Kirmes- Techno-Version. Das alles ist gar nicht schlimm. Aber wollte Gunther von Hagens seine Leichenschau am Hackeschen Markt oder im Kreuzberger Bergmannkiez eröffnen, wäre die Fallhöhe etwas größer.

Der schönste Anblick weit und breit: eine pastellbunte Häuserfront, daneben eine Statue des Komponisten Georg Friedrich Händel. In einer Ecke steht: „Best of Weltkultur“. Leider ist das Ganze nur ein riesiges Werbeplakat, das schräg über einer Filiale von Burger King hängt. Es wirbt für eine Reise nach Halle.
Von Hagens Menschen-Museum soll in die einstigen Büros des Lokalsenders „TV Berlin“ ziehen. Die stehen gerade leer, draußen hängen Schilder mit dicken Pfeilen an den Fenstern – für alle, die sich verirrt haben und den Eingang zum Fernsehturm auf der falschen Seite suchen.
Hier oben im Sockel, mit Blick Richtung Neptunbrunnen, hat lediglich die Sportkette „Fitness First“ ihren Eingang. Ab Oktober wird man sich also auf dem Treppenabsatz entscheiden müssen: rechts zu den Toten, links zu den Quicklebendigen.
Was sagen eigentlich die künftigen Nachbarn zu den Plänen? Die Bedienung im Café auf der Rückseite: „Das ist so ziemlich das Beste, was man hier machen kann.“ Die Frau vom Lounge-Restaurant: „Die Ausstellung habe ich schon beim letzten Mal gesehen. Einmal geh ich bestimmt noch rein.“ Der Mann vom Fahrradverleih, der gerade Segways für Touristen aufstellt: „Entschuldigung, in diesem Viertel kenne ich mich gar nicht aus. Ich bin Holländer.“
Niemand kann behaupten, dass sich die Gegend in den vergangenen Jahren nicht weiterentwickelt hat. Zum Beispiel der klotzige Bau auf der Nordseite des Fernsehturms: Dort war früher ein Laden mit Bongmaschinen, Hanfbeuteln und anderem Kifferzubehör drin. Jetzt hat ihn ein weiterer Souvenirshop ersetzt, der Berlin-Shirts und echte Mauerstücke anbietet. Es ließe sich darüber streiten, ob das eine ernsthafte Verbesserung darstellt.
Das einzige nahegelegene Museum ist bisher das „1. Berliner DDR-Motorrad- Museum“. Es stellt 140 Mopeds, Motorräder und -roller aus oder, um es mit den Worten des Betreibers zu sagen, „nahezu alle Modelle aus 40 Jahren DDR-Zweiradproduktion“. Die Sammlung ist tatsächlich umfangreich, richtet sich aber an eine eher spezielle Fangemeinde. In Fußnähe gibt es auch noch ein Gruselkabinett und das Riesenaquarium mit Aufzug in der Mitte. Beides echte Touristen-Attraktionen.

Dies ist vielleicht das zentrale Problem des Platzes: Scharenweise Besucher und Vorüberhetzer sind hier, aber keine Menschen, die verweilen wollen. Die einzige Szene, die sich am Fernsehturm trifft, sind die jungen Punks und Emos. Die haben im Sommer immerhin manchmal Ghettoblaster dabei.
Einmal im Jahr ist das anders: Da findet auf dem Alexanderplatz das Straßentheaterfestival „Berlin lacht“ statt, und mehrere Bühnen mit Tänzern, Fakiren und Feuerspuckern locken täglich hunderte Menschen an, die Kultur sehen wollen. Plötzlich wirkt der Platz wie ausgewechselt. Das Problem sind also bloß die 50 Wochen zwischen zwei Festivals.
Besonders heftig und grundsätzlich fällt der Widerstand gegen die geplante Ausstellung von Kirchenseite aus. Weil die Schau die Totenruhe missachte, einen würdelosen Umgang mit Verstorbenen praktiziere. Vieles spricht dafür, dass die Kirche recht hat. Aber dennoch: Wenn es irgendwo in Berlin einen prominenten Ort gibt, wo dieses Museum nicht stört, keine Atmosphäre kaputt macht, dann vermutlich hier.
- Die tote Ecke Berlins
- Ein Lichtblick: Die Raucherkneipe "Schnelle Quelle"
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