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Kolumne "Meine Heimat": Berlins Paralleluniversum bei Nacht

Wenn die Nacht einfällt, beginnt in Berlin eine Parallelwelt - auch für unsere Kolumnistin Hatice Akyün. Ihre Beobachtungen reichen vom Lesestoff für die Nebenwelt über eine Saturn-V-Rakete bis hin zum Hund im Flur. Sie aber wünscht sich die Stille.

Landläufig spricht man bevorzugt vom anonymen Großstadt-Dschungel. Allerdings benehmen sich bisweilen einige so, als seien sie alleine auf der Welt. An Hand des Hauses, in dem ich wohne, möchte ich das einmal anschaulich erklären.

Stellen Sie sich einfach das Fenster zum Hof von Alfred Hitchcock vor. Während James Stewart eingegipst den Innenhof aus Langeweile beobachtet und so einem Verbrechen auf die Spur kommt, ereignen sich bei mir eher offensichtliche, mit akustischen Klanginstallationen begleitete Inszenierungen sowie lautlose, unsichtbare und anonym aufgeführte Performance-Einlagen.

Die Nachwelt mit Lesestoff versorgen

Im Hausflur unseres Vorderhauses zum Beispiel gibt es schwarze Löcher, in denen sich Materie in Antimaterie verwandelt. Alle Postlieferungen, die nicht persönlich quittiert entgegengenommen werden und mehr beinhalten als das, was der Briefkasten über den Schlitz aufnehmen kann, landen in einem Paralleluniversum. Da ich viele Bücher zugeschickt bekomme, versorge ich die Nebenwelt also mit Lesestoff.

Von Außerirdischen bis zu Lusthormonen

Ähnlich kurios verhält es sich mit unserem Müll. Bis zwei Tage vor der Abholung haben wir einen perfekten, kleinen Recyclinghof. Aus irgendeinem Grund, womöglich durch Außerirdische, die zivilisatorische Feldforschung betreiben, vermischen sich die Tonneninhalte wie durch Geisterhand. Ein Hobbyforscher im Haus betreibt zudem eine Langzeitstudie, ob sich die Geräuschentwicklung einer Glasflasche beim Aufprall in der Tonne durch die Zunahme der Fallhöhe linear oder exponentiell entwickelt.

Nun haben Innenhöfe die Angewohnheit, wie Schalltrichter jedem Laut den perfekten Resonanzboden zu bieten. Berlin hat aber auch einen Sommer, dann stehen die Fenster offen. Die erhöhte UV-Bestrahlung lässt somit in unserem Hirn in Sonderschichten Lusthormone ausstoßen, und dieser Glückszustand wird von einer Nachbarin auch exzessiv in die Tat umgesetzt. Wenn sie startet, stelle ich mir immer eine Saturn-V-Rakete vor, die Richtung Mond fliegt, was die Dauer ihres bemannten Ritts zu den Sternen betrifft. Den Landeanflug, der Eintritt in die Erdatmosphäre, das Zünden der Bremsraketen und das quietschende Ausrollen zwischen Schnapp- und Stoßatmung, begleitet sie Dank ihrer Stimmbänder so fulminant intensiv, dass ich aus Anteilnahme Ingwerpastillen lutsche.

Ein Nachbar im Erdgeschoss genießt es lieber halb passiv. Wahlweise höre ich die Jingles seiner Ballerspiele, oder die auf verschiedenen Internetportalen von ihm in Anspruch genommenen Videoclips, die lautstark demonstrieren, was zwei oder mehrere Körper zeitgleich miteinander anstellen können, sobald man den Aspekt der Fortpflanzung zwischen den Akteuren mal ausblendet. Um den Schall mit Gegenschall zu bekämpfen, stellt meine Nachbarin gegenüber ihren Miniknäuel von Hund in den Flur, der dann wie die Zeitansage rhythmisch kläfft. Es kann aber auch sein, dass sie ihn dort nur an die Steckdose samt Ladegerät hängt.

Berlin, du bist so wunderbar, heißt es in einer Werbung. Kann schon sein, aber momentan wünsche ich mir die Stummfilmzeit zurück. Oder wie mein Vater sagen würde: „Davulun sesi uzaktan hos gelir.“ Die Trommel klingt am schönsten aus der Ferne.

Hatice Akyün - ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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